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Niemand wollte Gouardos Geschichte, die 28 Jahre vom heute toten Adoptivvater vergewaltigt und sechsmal von ihm geschwängert wurde, hören. Als sie von Amstetten las, meldete sie sich bei Medien.

Foto: AFP
Es ist schwer zu glauben, was Lydia Gouardo diese Woche der Lokalzeitung Le Parisien erzählte. Und doch ist die Geschichte der heute 45-jährigen Französin durch die Justizakten verbürgt. Lydia Gouardo wurde 28 Jahre von ihrem Adoptivvater vergewaltigt und erst 1999 durch seinen plötzlichen Tod erlöst. Der Mann machte ihr sechs Kinder. Er und seine zweite Frau quälten das Mädchen. Als sie wegzurennen versuchte, wurde sie eingesperrt.

Noch unglaublicher ist die öffentliche Reaktion: Vertuschen, Verdrängen, Schweigen. Nach dem Tod des Peinigers kam wenigstens die Stiefmutter 2007 vor Gericht. Sie hatte Lydia unter anderem in siedendes Wasser geworfen und den Vergewaltigungen - manchmal drei pro Tag - anspornend beigewohnt; zudem hatte sie sich selbst an einem Sohn vergangen. Lydia Gouardo wünschte einen offenen Prozess. Seltsamerweise verwies das Gericht aber das Publikum vor die Tür.

Das Urteil war eine mehrjährige Haftstrafe, doch sie wurde auf Bewährung ausgesetzt. Das Berufungsgericht bestätigte den Schuldspruch vor zwei Wochen - nur wenige Zeitungen berichteten.

Bürgermeister: "Beschmutzen Sie Coulommes nicht"

Eine Journalistin der Zeitung Libération begab sich immerhin nach Coulommes, 60 Kilometer östlich von Paris. Der frühere Bürgermeister erklärte ihr: "Ja, ich wusste es, das ganze Dorf wusste es. Aber beschmutzen Sie Coulommes nicht. Was die Leute untereinander treiben, hat uns nicht zu beschäftigen." Lydia Gouardo erklärte ihrerseits: "Ich bin wütend auf meine Nachbarn. Einige wohnten schon damals dort und sagten nichts."

Am Unglaublichsten ist die Untätigkeit der Behörden. "Niemand wollte meine Geschichte hören", sagt die Frau, die kaum je zur Schule gegangen ist und heute mit ihrem Freund und ihren Kindern auf dem Bauernhof ihres Vaters lebt. Die Gendarmerie sei mehrmals alarmiert worden, habe aber nie reagiert. Beim Prozess gab es dazu keine Unterlagen - auch nicht vom Spital, wo das Mädchen mehrmals wegen Verbrennungen behandelt worden war. Ähnlich ging es ihr, als sie ihre Kinder gebar. "Wenn die Krankenschwestern fragten, wer der Vater sei, sagte ich, wie es ist. Niemand hat jemals reagiert."

Von Le Parisien gefragt, was sie zu dem Inzestfall in Amstetten meine, erklärte Lydia Gouardo diese Woche: "Ich sagte mir, dass sie (Elisabeth F.) mehr durchgemacht hat als ich. Ich habe Lust, dieser Frau zu helfen. Vielleicht gibt es andere solche Fälle in den Dörfern, wo die Leute ihre Läden schließen." Andere französische Zeitungen und Fernsehsender, die ausführlich aus Amstetten berichten, ignorierten die Aussage der Französin. In ihrem eigenen Land, wo Inzest kein Delikt ist, ist Lydia Gouardo kein Medienthema. (Stefan Brändle aus Paris/DER STANDARD-Printausgabe, 2.5.2008)