Moskau - Der Kreml-Kritiker und frühere Schachweltmeister Garri Kasparow (45) sieht Chancen für einen Neustart der liberalen Opposition nach der Machtübergabe im Kreml. "Wir mögen schwach sein und aus vielen Einzelgruppen bestehen, aber es gibt die Opposition", sagte Kasparow in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur dpa in Moskau. Seit ein, zwei Jahren wachse die Gruppe der Unzufriedenen im Land. "Es ist wichtig, dass wir uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und vereint gegen den Machtapparat vorgehen", sagte der Führer der Oppositionsbündnisses Das andere Russland.

"Die Bewegung muss so stark werden, dass wir im Fall einer wirtschaftlichen und sozialen Krise im Land eine echte Alternative zum bestehenden Machtapparat bieten können." Den meisten Menschen in Russland seien bis heute die vielen Details einer Demokratie nicht klar. Die Opposition werde mit Kundgebungen und Versammlungen weiter auf die Defizite hinweisen. "Es ist die Tragödie Russlands, dass es bei uns keine normalen politischen Kräfte gibt, die bereit sind, sich in einem demokratischen Prozess den Wahlen zu stellen."

"Herrschaft der Oligarchen"

Kasparow warf dem langjährigen Präsidenten Wladimir Putin vor, eine "Herrschaft der Oligarchen" aufgebaut zu haben, die zu einer immer größeren Kluft zwischen armen und reichen Menschen führe. Die marode Infrastruktur im ganzen Land, das ungelöste Rentenproblem und die rasant steigende Inflation sorgten zunehmend für Unmut in der Bevölkerung. "Da geht es längst nicht nur um Menschenrechte, sondern auch um Verhaftungen von Regimekritikern, Schließung von Medien und Abriss von Baudenkmälern. Die Unzufriedenheit sitzt viel tiefer."

Es müsse gelingen, die vielen lokalen sozialen Proteste zu vereinen, sagte Kasparow. Immer mehr Menschen hätten die "Drangsalierung" satt. "Bei den letzten Parlaments- und Präsidentenwahlen ist Schlimmeres passiert als bei Wahlfälschungen: Patienten wurde mit Medikamentenentzug und Angestellten mit Entlassungen gedroht, sollten sie nicht wählen", sagte Kasparow.

"Das verbrecherische Regime"

Der Machtapparat dringe direkt in die "Privatsphäre der Menschen" ein. "Das kann nicht gut gehen." Die weitere Entwicklung werde auch davon abhängen, wie sich der Westen verhalte, betonte der Regierungsgegner. "Es müssten klare Linien gezogen werden: Geschäft ist Geschäft, Menschenrechte sind etwas anderes." Der Westen könne Russland zum Beispiel aus der Gemeinschaft der G8-Staaten ausschließen, um "das verbrecherische Regime" nicht weiter zu stützen, empfahl er.

Kasparow sieht auch die Aufgabe von Russlands neuem Präsidenten Dmitri Medwedew darin, das Vermächtnis von Putin zu bewahren. "Es ist doch so, dass Putin Medwedew als liberales Gesicht für den Westen ausgewählt hat, damit Russland dort an Vertrauen gewinnt und sein Kapital platzieren kann." Dabei gehe es "um hunderte Milliarden Euro, die im Westen vor einer möglichen Krise in Russland vorsorglich in Sicherheit gebracht wurden".

Kein Anlass zu Hoffnung

Anlass zu Hoffnungen auf ein politisch liberaleres Russland sieht Kasparow unter Medwedew, der ein Produkt des Kremls sei, aber kaum. In Wahrheit gehe es der politischen Elite des Landes nicht - wie immer behauptet - um außenpolitischen Einfluss etwa bei den umstrittenen US-Raketenabwehrplänen in Mitteleuropa oder in der Kosovo-Frage. "Diese Themen sind nur Verhandlungsmasse, um sich damit im Westen mehr wirtschaftlichen Einfluss zu erkaufen." (Ulf Mauder/dpa/APA)