Wien - Nach vielen abgelehnten Medienanfragen nahm der Kriminalpsychologe Thomas Müller am Sonntag doch noch einmal Stellung zum Inzestfall in Amstetten. In der ORF-Radio-Reihe "Frühstück bei mir" sprach der Profiler und Bestsellerautor von einem "sehr komplexen Fall". Das Zusammentreffen von Vergewaltigung, Inzest und Einsperren, und das über Jahre hinweg, sei sehr selten. Dass ein Mensch dazu imstande sei, überrasche ihn als Psychologen aber nicht.

Auf die Frage, ob die Gattin des Verdächtigen etwas mitbekommen haben müsse, wollte Müller keine Ferndiagnose abgeben. Es sei aber damit zu rechnen, dass "möglicherweise noch weitere böse Überraschungen auftauchen werden". Nachbarn oder Untermietern, die in dem Haus wohnten und ebenfalls nichts bemerkten (oder allenfalls jetzt von Merkwürdigkeiten berichten) wollte er keine Vorwürfe machen. Er appellierte aber, "ruhig neugierig zu sein, wenn einem etwas auffällt". Müller: "Das heißt ja nicht, dass gleich überall großes Misstrauen ausbrechen muss."

Narzissmus Grundsätzlich meinte Müller, dass nicht übersteigerter Narzissmus die Antriebsfeder vieler Verbrechen sei, sondern das Gegenteil: "Wer seine narzisstische Neigung nicht ausleben, sich also nicht selbst erhöhen kann, unterdrückt andere Menschen", beschrieb der Psychologe seine Erfahrungen mit Tätern.

Der 43-jährige Tiroler ist seit drei Jahren nicht mehr als Profiler fürs Innenministerium tätig und mit dem aktuellen Fall auch nicht betraut. Er hat noch eine Lehrverpflichtung für die Sicherheitsakademie und ist nach wie vor als Gerichtsgutachter gefragt. (simo, DER STANDARD Printausgabe, 5.5.2008)