Bild nicht mehr verfügbar.

Angehörige trauern um den bei einem US-Luftschlag in Sadr-City getöteten Schulwart Jabbar Hilal. Bei den Kämpfen wurden bisher mindestens 500 Menschen getötet, darunter viele Zivilisten.

Foto: AP/Kadim

Bild nicht mehr verfügbar.

Muktada al-Sadr: Ihm laufen die Armen zu.

Foto: AP/Alaa al-Marjani
Im schiitischen Viertel Sadr-City in Bagdad kämpfen seit Wochen irakische und US-Truppen gegen Muktada al-Sadrs Mahdi-Armee. Sie rekrutiert sich aus den Ärmsten der Armen unter den irakischen Schiiten.

***

Jafar könnte von sich sagen, er habe es geschafft. Der 45-jährige Iraker hat ein gutgehendes Kosmetikgeschäft, verkauft seine Produkte auch auf dem Großhandelsmarkt und arbeitet außerdem als Übersetzer beim Verteidigungsministerium. Als Saddam Hussein am 9. April 2003 gestürzt wurde und die Amerikaner Bagdad einnahmen, tanzte Jafar um das Denkmal des Diktators nicht weit von seinem Haus entfernt. „Ich wollte fliegen, so glücklich war ich!“

Wie Jafar jubelten an jenem Tag die meisten Schiiten im Irak. Denn gerade sie hatten schwer unter dem Gewaltherrscher gelitten. Jafar, mit einer Flugausbildung in Großbritannien, war zwar Pilot in der Luftwaffe gewesen. Doch als er nach dem Kuwait-Krieg und den brutal niedergeschlagenen Schiitenaufständen anfing, mit seinen Kollegen über Freiheit und Menschenrechte zu diskutieren, wurde er 1994 gefeuert.

Doch die jetzige, neue irakische Armee sei ein „komischer Laden“, drückt er seine Unzufriedenheit mit der Gegenwart aus. „Die bringen ihre eigenen Leute um. Jeder tötet jeden.“ Und dann sagt er einen Satz, der dieser Tage die Runde macht zwischen Euphrat und Tigris: „Damals hatten wir einen Saddam, auf einmal sind es viele!“ Vielleicht, so räumt Jafar ein, sei ja auch ein Saddam in ihm selbst. „Wer weiß?“

Was dieser Tage im Irak geschieht, wird kontrovers diskutiert. Die einen werfen dem schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki vor, die eigenen Leute zu verraten, die anderen loben sein energisches Durchgreifen. Im schiitischen Viertel Sadr-City in Bagdad toben Kämpfe zwischen der Mahdi-Armee des Schiitenführers Muktada al-Sadr und den von der US-Armee unterstützten Regierungstruppen. Die Regierung will die Mahdi-Armee entwaffnen.

Sadr-City, der Zwei-Millionen-Bezirk im Osten der irakischen Hauptstadt, wird seit dem Sturz Saddams von Sadr und seinen Anhängern kontrolliert. Im Juli 2003 gründete der junge Mann mit dem schwarzen Turban seine Mahdi-Armee, die etwa 60.000 Mitglieder hat, gegen ausländische Soldaten agiert und nach Februar 2006, nach dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samarra, auch auf Sunniten losging. Muktada al-Sadrs Anhänger rekrutieren sich aus dem Proletariat und Subproletariat. In dem von Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Überbevölkerung und Zusammenbruch der Infrastruktur geplagten Sadr-City entstand eine mobilisierende Kraft mit hoher Glaubwürdigkeit.

Jafar und seine Familie haben Angst vor diesen jungen schiitischen Fanatikern, die verächtlich „Shrugis“ – was so viel heißt wie „der Mob“ – genannt werden. Sie stehen im Ruf, die Plünderer gewesen zu sein, die nach dem Sturz des Diktators sich alles unter den Nagel rissen, was möglich war. „Die aus Sadr-City“ sind deshalb nicht nur bei den Bagdader Sunniten und Kurden verpönt.

Doch die Sadristen, wie die Anhänger der Bewegung genannt werden, sind ein Machtfaktor. Im Stadtbild von Bagdad wird dies überdeutlich. An den Stellen, wo ehemals Saddams Konterfei hing oder Statuen des Herrschers angebracht waren, hängen jetzt Vater und Onkel Muktada al-Sadrs, zwei Großayatollahs, die von Saddam Hussein ermordet wurden.

Auch Jafar hat sich auf die neuen Zeiten eingestellt. An der Stelle, wo früher Saddam Husseins Bildnis im Wohnzimmer hing, hängt jetzt ein Foto von Abdul Aziz Al-Hakim, dem Führer der SIIC (Hoher Islamischer Rat), der größten Partei in der regierenden Schiitenallianz, der größte innerschiitische Gegner der Sadristen. Über dem Sofa ist ein riesiger Gobelin, der den schiitischen Imam Hussein darstellt. Jafar schaut verlegen drein, als er die Blicke der Besucher bemerkt. Wenn er in einem Viertel wohnen würde, das von der Mahdi-Armee kontrolliert wird, hinge dort Muktada al-Sadr oder sein Vater, gibt er ehrlich zu.

„Wir Schiiten haben die Mehrheit“, sagte Nuri al-Maliki schon nach den ersten Wahlen im Jänner 2005, „das müssen die Sunniten endlich begreifen.“ 2006 wurde Maliki mit den Stimmen der Sadristen zum Regierungschef gewählt. Alle Schlüsselministerien sind mit Mitgliedern der Schiitenallianz besetzt: Inneres, Öl, Finanzen, Gesundheit und Erziehung. Dort wird von 28 Generaldirektionen eine von einem Sunniten geleitet, einem Kurden.

„Die militanten Islamisten sind die neuen Teufel Iraks“, behauptet Jafar, „egal ob Sunniten oder Schiiten.“ Er wolle doch einfach nur leben, ausgehen, manchmal ein Bier trinken und mit seiner Frau eine Diskothek besuchen. Das alles sei im strengen Islam, den diese Leute propagieren, verboten. Seine Frau und seine Schwester könnten nicht mehr unverschleiert in die Öffentlichkeit.

Seitdem sein Cousin bestialisch ermordet wurde und sie ihn im Leichenschauhaus mit abgeschnittenem Kopf identifiziert haben, hat Jafars Sohn Sprachstörungen und epileptische Anfälle. Psychologen, die diese seelischen Schäden heilen könnten, gäbe es nicht im Irak, und Psychopharmaka sind teuer. „Ich warte“, flüstert der sensible Mann mit leicht geröteten Augen, „warte, wie ich es die letzten 40 Jahre getan habe.“ Vielleicht, so fügt er noch hinzu, werden ja die nächsten Wahlen ein anderes Kräfteverhältnis bringen. Er jedenfalls werde nicht mehr „schiitisch“ wählen. (Birgit Svensson aus Bagdad/DER STANDARD, Printausgabe, 9.5.2008)