Die Entwicklungshilfe hat die Landwirtschaft lange vernachlässigt, sagen die Experten. Die EU leitete bereits eine Trendumkehr ein. Um die aktuelle Hungerkrise zu verhindern, kam das viel zu spät.

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Wien – Die Hungerkrise ist auch ein Ergebnis erfolgreicher Entwicklungshilfe. Das mag widersprüchlich klingen, sei aber eine verbreitete Leseart in den Brüsseler Gremien, sagt der ranghohe Mitarbeiter in der EU-Kommission. „Einer der Gründe, warum die Preise für Lebensmittel steigen, ist die steigende Nachfrage. Die Nachfrage wächst, weil der Wohlstand wächst.“ Und dazu habe auch die Entwicklungshilfe beigetragen. Das zentrale Problem ist nur: Profitiert haben nicht alle. In Indien und in China mögen die Menschen mehr konsumieren denn je. In Afrika, im Nahen Osten und in Südamerika können sich immer mehr ihr Essen kaum leisten.

Warum ist es aber der Entwicklungshilfe in mehr als vierzig Jahren nicht gelungen, ein Sicherheitsnetz für die Ärmsten zu spannen? Haben die Geber die Krise nicht kommen gesehen? „Doch“, sagt Bernhard Walter von der Deutschen Hilfsorganisation Brot für die Welt. „Die Entwicklungshilfe hat die Landwirtschaft aber über Jahrzehnte vollkommen vernachlässigt.“ Noch Ende der Siebzigerjahre wurden von jedem Euro, der nach Afrika und Lateinamerika ging, fast zwanzig Cent in die Landwirtschaft gesteckt. Inzwischen sind es nicht einmal mehr vier Cent. Das hatte auf den ersten Blick sogar vernünftige Gründe: „Die Projekte in den 1970ern hatten kaum Wirkung. Also lautete die Devise: Lieber die urbane Armut bekämpfen“, erzählt Walter.

Eine neue Trendumkehr kam Jahrzehnte später: Die Diskussion über die Vernachlässigung der Landwirtschaft begann in der EU, dem größten Nettohelfer, bereits 2006, erinnert sich ein Diplomat.

Die Debatte drehte sich damals um Steuern. Weil die Landwirtschaft in vielen der ärmsten Länder der einzige wertschaffende Sektor ist, bedeutet weniger Landwirtschaft zugleich weniger Steuereinnahmen für den Staat. Weniger Steuern heißt weniger Schulen, weniger Straßen, also weniger Entwicklung. Also wurde eine Trendumkehr eingeleitet: Die Kommission verdoppelte ihre Ausgaben für die Landwirtschaft. „Aber das kam zu spät“, sagt der Diplomat. „Ist die Entscheidung in Brüssel getroffen, dauert es lange, bis die Menschen Erleichterung spüren.“

Allerdings ging es nie nur darum, wie viel gezahlt wird. Ein Problem ist auch, dass Geber mit ihrer Agrarpolitik die Hilfe torpedieren.

Der Italiener Marcello Faraggi veranschaulicht das in seinem Film „Hühnerwahnsinn“ am Beispiel Kamerun. Auf den Märkten werden im ganzen Land Hühner angeboten. Genauer gesagt sind es nur Köpfe und magere Füße. Diese Reste kommen aus Europa. Weil die Europäer am liebsten Brust verspeisen, werden die nicht absetzbaren Tierteile billig nach Afrika exportiert. Die lokalen Geflügelzüchter können mit den Niedrigpreisen nicht mithalten. Dabei wurden viele Bauern in Kamerun gerade von Entwicklungshilfeorganisationen dazu ermuntert, in die Geflügelzucht zu investieren. Sie bekamen Kredite zur Anschaffung weiterer Tiere, zum Ausbau der Ställe. Dann kam das Dumping-Huhn, die Aufbauarbeit wurde zerstört. Der Agrarexport muss mit der Entwicklungshilfe abgestimmt werden, fordert daher Brot für die Welt. Die landwirtschaftliche Produktion müsse nachhaltig gestärkt werden, der Staat müsse in die Lage versetzt werden, effektiv umverteilen zu können.

Kritisiert wird aber auch die Lebensmittelhilfe des World Food Programme (WFP). Nur Nahrungsmittel zu verschiffen schaffe Abhängigkeit und diene den westlichen Staaten dazu, ihre Produktionsüberschüsse loszuwerden, kritisieren Entwicklungshelfer.

Selbst in der UN-Familie wird gestritten: Die auf längerfristige Hilfe ausgerichtete Food and Agriculture Organization (FAO) kritisiert den WFP offen. Nicht weil Nahrungsmittelhilfe Abhängigkeit schaffe, dazu sei sie zu unberechenbar, schreibt das FAO in einem Bericht. Es mangele bei der Umsetzung: Oft würden die Hungernden nicht erreicht. Zudem werde ein Großteil der an die FAO gespendeten Summen in den Industrienationen selbst ausgegeben. Die FAO zeigt das am Fall USA: Dort ist vorgeschrieben, dass die Verpackung der Lebensmittel und der Großteil der Verarbeitung von gespendeten Gütern im Inland stattfinden müssen. Das Ergebnis: Rund die „Hälfte der US-Ausgaben für Nahrungsmittelhilfe wird in den USA selbst ausgegeben“. (András Szigetvari/DER STANDARD, Printausgabe, 10./11./12.5.2008)