Ein ehernes Gesetz unserer Kindheit lautete: „Was auf den Teller kommt, wird gegessen.“ Grausames Detail: Was auf den Teller kam, bestimmten nicht wir. Schmeckte es uns (Faschiertes, Geselchtes), war es rasch wieder weg vom Teller. – Nachfrage: Gibt‘s noch Fleisch?“ Mutter: „Iss einmal das Sauerkraut!“ (Davon kam stets zu viel auf den Teller. Um es vom Teller zu schieben, damit wir es nicht essen mussten – dazu fehlte uns der Mut.) „Also gibt‘s noch Fleisch?“– M: „Iss einmal das Sauerkraut!“ – „Gibt‘s dann noch Fleisch?“ M: „Nein.“ Zehn Sekunden später: „Ich kann nicht mehr.“ M: „Du kannst! – „Da ist Kümmel drin.“ M: „Kümmel ist gesund.“ – „Mir graust vor Kümmel.“ M: „Dann tu ihn zur Seite und iss das Sauerkraut!“ – „Mir graust vor Sauerkraut.“ Danach wurde es historisch. M: „Wir haben im Krieg jeden Tag nur Sterz bekommen.“ – „Ja, Sterz!“ (Sterz gab es nie, Mutter verabscheute Sterz.) Danach wurde es ethnisch. M: „Iss das Sauerkraut auf! In Afrika hungern Millionen Kinder.“ – „Was hilft‘s den Kindern in Afrika, wenn ich in Österreich aufesse?“ – Die Frage ist bis heute wie folgt notdürftigst ausweichend beantwortet geblieben: „Iss jetzt das Sauerkraut!“ (Daniel Glattauer, DER STANDARD Printausgabe, 10./11./12.5.2008)