Zur Person
Walter Reinisch ist an der Universitätsklinik für Innere Medizin III an der Medizinische Universität Wien tätig.

Er ist Leiter der Arbeitsgruppe für Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen der Österreichischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie und Sekretär der European Crohn`s and Colitis Organisation (ECCO).

Foto: Wustinger

Darstellung des möglichen Dickdarmbefalls. Hier: Proktosigmoiditis (40 Prozent)

Grafik: Thomas Ochsenkühn

Linksseitige Colitis (40 Prozent)

Grafik: Thomas Ochsenkühn

Pancolitis, totale Colitis (20 Prozent)

Grafik: Thomas Ochsenkühn

derStandard.at: Die Colitis Fälle im ambulanten Bereich sind zwischen 1992 und 2006 um 270 Prozent gestiegen. Liegt das an einer verbesserten Diagnose oder sind entzündliche Darmerkrankungen tatsächlich so im Steigen?

Reinisch: Das zu erklären ist schwierig. International gesehen wissen wir aus epidemiologischen Studien, dass chronische entzündliche Darmerkrankungen insgesamt in Zunahme begriffen sind. Sowohl bei Morbus Crohn als auch bei der Colitis ulcerosa. Allerdings war die Colitis in Österreich bisher stabil, dass diese jetzt auch im Steigen ist, ist neu.

Eine mögliche Argumentation wäre die Einführung der LKF Punkte (Anm.:System zur Leistungsabrechnung). Dadurch könnte die Dokumentation verbessert worden sein. Andererseits ist im Vergleich zu anderen Erkrankungen der Anstieg nicht in einem so hohen Ausmaß gegeben. Dadurch lässt sich der Rückschluss ziehen, dass der Anstieg der Colitis ulcerosa doch etwas Spezifisches ist.

derStandard.at: Zusätzlich sind auch noch die Ursachen der Colitis ulcerosa nicht bekannt. Wie geht man als Mediziner mit den vielen "Unbekannten" um?

Reinisch: Ähnlich wie bei allergischen Erkrankungen geht man heute von einer fehlenden Exposition gegenüber einer bakteriellen Flora im frühen Kindheitsalter aus. Das ist die so genannte Hygienehypothese, die besagt, dass bei Kindern, die unter ländlichen Bedingungen aufwachsen das Risiko deutlich niedriger ist an einer Colitis ulcerosa zu erkranken, als bei Stadtkindern.

Ob da allerdings das ländliche Klima oder das bakterielle Umfeld positiv wirken oder ob ganz andere Faktoren, wie zum Beispiel weniger Stress ausschlaggebend sind, weiß man eigentlich nicht. Der Faktor, der die bereits ausgeprägte Erkrankung deutlich beeinflusst ist Stress. Menschen die unter chronischen Stressbedingungen stehen haben nachweislich einen deutlich schlechteren Krankheitsverlauf mit einem höheren Komplikationsrisiko.

derStandard.at: Die Erkrankung beginnt meist im jungen Erwachsenenalter. Wie sehen die klassischen Symptome aus?

Reinisch: Das ist eine Trias, auf die man achten muss: Bauchschmerzen, Durchfall und Blut im Stuhl. Wir haben für Ärzte und Patienten zur Früherkennung einen CED (Anm.: Chronisch Entzündliche Darmerkrankung) Check erarbeitet, den man online abrufen kann.

derStandard.at: In einer Umfrage geben 53 Prozent der Betroffenen an, die Krankheit bestimme ihr Leben. Wie kann man sich den Alltag vorstellen?

Reinisch: Ich bin der behandelnde Arzt und kann nur wiedergeben was mir Patienten schildern. Prinzipiell ist es aber so, dass die Tätigkeiten eines Patienten sicherlich dadurch bestimmt werden, ob eine Toilette im Umkreis verfügbar ist. Danach richten Patienten ihr Leben aus.

Dazu kommt noch das Leiden durch Bauchschmerzen, der enorme Stuhldrang mit immensen Krämpfen und der ständigen Konfrontation mit viel Blut, mit der Unsicherheit wie sehr der Körper auch noch unter dem Blutverlust leidet.

derStandard.at: Die Krankheit verläuft in Schüben. Wie sieht die Akutphase aus?

Reinisch: Ein Schub geht mit einer immens hohen Stuhlfrequenz einher. Zwischen 10 und 25 Stühle pro Tag sind die Regel. Viele verlassen in diesen Phasen, die Wochen und Monate andauern können, nicht mehr ihr Haus. Und wenn sie zum Arzt müssen, dann muss im Auto für den Notfall ein Küberl stehen. Eine U-Bahnfahrt ist undenkbar. Alles ist auf die Verfügbarkeit einer Toilette begrenzt.

derStandard.at: Es gibt eine neue Informationsbroschüre. Im Vorwort ist von "Verharmlosung und Fehldiagnosen" die Rede. Wie ist eine Verharmlosung bei diesen Symptomen möglich?

Reinisch: Die Verharmlosung findet im Gesundheitswesen statt. Viele leiden massiv und stehen sozial knapp vor dem Absturz. Es ist jedes Mal ein Jammer das zu sehen. Wünsche und Forderungen nach einer besseren Versorgung stoßen aber auf taube Ohren.

derStandard.at: Woran mangelt es?

Reinisch: Die Erkrankung ist unbequem und bringt kein Geld. Das ist das Problem. Wenn sie versuchen wollen die Komplexität der Erkrankung bei einem jungen Patienten zu verstehen, dann dauert das seine Zeit. Mit dem gesamten psychosozialen Druck und den Unterlagen braucht man mindestens eine Stunde. Diese Zeit gibt es im Gesundheitssystem nicht.

derStandard.at: Wie kommen sie dann zurecht?

Reinisch: Bei uns im AKH rechnet uns der Abteilungsleiter bereits im Mai vor, dass das Geld schon verbraucht ist. Das heißt 80 Prozent der Gelder für unsere Ambulanz versuchen wir selbst über Projekte und Forschung aufzustellen, um überhaupt den Routinebetrieb aufrecht zu erhalten.

derStandard.at: Bei zwanzig bis dreißig Prozent der jungen Patienten kommt es nach zehn Jahren zu einer Entfernung des Dickdarms. Das heißt das Interesse der Allgemeinheit müsste doch hoch sein. Junge schwer Kranke kommen dem Gesundheitssystem sehr teuer.

Reinisch: So ist es. Wir haben rund 80.000 Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen in Österreich. Ich habe vor zwei Jahren ein Positionspapier zur Beurteilung von CED verfasst, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Auch auf die immense gesundheitsökonomische Last, wenn junge Menschen aus dem Arbeitsprozess heraus fallen. Trotzdem finden wir keine lokale und keine Landesunterstützung und vom Bund schon gar nicht. Das ist wirklich unglaublich.

derStandard.at: In der Forschung besteht allerdings Interesse.

Reinisch: Die Industrie hat erkannt, dass es da Geld zu holen gibt. Die Patienten erkranken jung und bleiben lebenslang krank. Wenn ich da ein Medikament entwickle, das die Betroffenen von ihrem 20. Lebensjahr an lebenslang begleitet, dann ist das ein Winner. So überlebt auch die Forschung, wenn die Industrie wieder in die Forschung hinein investiert. Der Staat tut das nicht.

derStandard.at: Neue Therapiekonzepte gibt es bereits. Was können die TNF-Alpha Blocker?

Reinisch: Das Medikament kann zu einer Verbesserung führen. Patienten mit einem mäßigen bis schweren Verlauf der Colitis ulcerosa, die konventionell schon austherapiert waren, wurden in Studien aufgenommen.

Diese Studien haben dann gezeigt, dass mit "Remicade" bei 50 bis 60 Prozent eine Verbesserung des Beschwerdebildes erreicht wurde. Bei rund 30 Prozent konnte sogar fast der Zustand einer fast normalen Lebensqualität erreicht werden. Zusätzlich wurde die Rate der Dickdarmentfernungen innerhalb eines Jahres um 41 Prozent gesenkt.

derStandard.at: Glauben Sie, dass in absehbarer Zeit Heilungschancen bestehen?

Reinisch: Die Hoffnung gibt es, wenn man daran festhält die Erkrankung zu untersuchen. Aber dazu muss irgendwer einmal Geld in die Hand nehmen und die Forschung unterstützen. Wissenschaft und Forschung ohne staatliche Förderung kann nicht funktionieren. Auch Österreich hätte eine gute Chance mit der großen Erfahrung des Patientenkollektivs am AKH den Ursachen der Erkrankung näher zukommen. (nia, derStandard.at, 14.05.2008)