Eine Sehende unter Blinden: US-Star Julianne Moore in Fernando Meirelles' "Blindness", der menschliches Verhalten in einer Ausnahmesituation untersucht.

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Die 61. Ausgabe des Filmfestivals wurde am Mittwoch eröffnet.


"Palm D'Or Pressing" ist der Name einer Putzerei, die nicht unweit des Festivalpalasts und der berühmten Croisette an einer schattigen Ecke liegt. Auf manchen Speisekarten der umliegenden Restaurants wiederum finden sich Gerichte wie "Fettucini Serpico" das ganze Jahr hindurch. Wenn in Cannes nach den Filmfestspielen wieder Ruhe eingekehrt ist, sind solche rührenden Formen des Merchandisings das Einzige, was weiter an Hektik und Glamour des Festivals erinnert.

Die Erinnerung an Eröffnungsfilme ist zu einem solchen Zeitpunkt meistens auch schon verblasst. Ihre Funktion ist nicht unbedingt, auf die Gangart der nächsten Tage einzustimmen. Sie sind nur für den Anfang da und dürfen niemanden ernsthaft verstören. Aber je mehr schauwertträchtige Stars dafür anreisen, desto besser.

"Blindness", der neue Film von Fernando Meirelles, trat ein wenig mit dem Versprechen an, diese Logik zu durchbrechen. Er läuft im Wettbewerb und verfügt mit José Saramagos "Die Stadt der Blinden" über eine Romanvorlage, deren Blick auf die Menschheit nicht unbedingt kulinarisch erscheint. Im Film beginnt die Veränderung an einer Ampel. Ein Mann hält den Verkehr auf, weil er plötzlich nur noch einen weißen Schleier vor Augen hat. Es ist der Ausgangspunkt einer Epidemie. Ohne Vorankündigung verlieren Menschen ihr Sehvermögen.

Alltägliche Katastrophe

Das Drehbuch stammt vom Kanadier Don McKellar, der mit "Last Night" 1998 einen vergleichbaren Film inszenierte. Darin wurde der Katastrophenfilm, der in der Regel mit Spezialeffekten überwältigen will, um melancholische Alltäglichkeit bereichert. "Blindness" versucht auf einer ähnlichen Spur, weniger erfolgreich, menschliches Miteinander angesichts einer Ausnahmesituation zu beschreiben. Nach einer zügigen Exposition, die noch an einen dystopischen Sciencefictionfilm denken lässt, verlagert sich das Geschehen in ein Camp, in dem die ersten Opfer von Blindheit unter Quarantäne gestellt werden.

Unter ihnen ein Arzt (Mark Ruffalo) und seine Frau (Julianne Moore), die einzige Person, die weiter sehen kann, aber vorgibt, blind zu sein. Sie leitet die Gruppe zuerst versteckt, dann zunehmend aktiver. Die einfachsten Dinge werden zum Hindernis, es formen sich Bündnisse, schließlich treten auch Machtstrukturen auf, die an überwunden geglaubte Zivilisationsmuster erinnern.

Meirelles gelingt es nur unzureichend, die Dynamik einer solchen Extremsituation nachvollziehbar zu machen. Visuell behilft er sich mit einem Ein- und Ausfaden in monochromes Weiß, was bald manieriert erscheint. Problematischer wiegt, dass die Psychologie der Figuren ähnlich blass bleibt wie der Look des Films. Die dramatischen Abläufe, die sich bis zum Menschenhandel zuspitzen, verfolgt man deswegen zunehmend teilnahmslos. Das emotionale Sehen wird in "Blindness" einfach zu sehr von Äußerlichkeiten irritiert. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.5.2008)