Illustration: Lukas Adelinger
Vor 15 Jahren wurde das World Wide Web für die Allgemeinheit freigegeben. Erst damit begann der Siegeszug des Internet, wie wir es heute kennen. Und das ist gut so, meint Mareike Müller

"Heavy User"

Zu den Allgemeinplätzen sogenannter "heavy user" gehört es, sich ein Leben ohne Internet gar nicht mehr vorstellen zu können. Dabei war das vor nur fünfzehn Jahren noch so leicht, wie Socken anziehen. Lediglich Forscher, das US-amerikanische Militär und andere Eingeweihte wühlten sich mühsam durchs Internet, damals noch ein verschachtelter Wust an Daten und Diensten.

Timothy John Berners-Lee

Dann aber gab der britische Physiker und Software-Entwickler Timothy John Berners-Lee vom Genfer Kernforschungszentrum Cern ein Software-Bündel zur öffentlichen Nutzung frei, das er entwickelt und World Wide Web (WWW) genannt hatte: Die neue Benutzeroberfläche war der entscheidende Schub, um aus dem Internet ein Massenphänomen werden zu lassen. Mittlerweile bezeichnet man mit WWW schon lange nicht mehr diesen ersten Webbrowser, sondern das gesamte Hypertext-System, das sich über das Internet abrufen lässt. Und was haben wir heute von der Pionierleistung des Herrn Berners-Lee?

Zu viel, zu viel, zu viel. Ja, das World Wide Web bietet vor allem von allem zu viel. Den ganzen Bauchladen des Bösen: zu viel Langweiliges, Schlechtgemachtes, Hasserfülltes, Pornografisches. Kein Wunder, dass viele das Web übersetzen mit: Zeitverschwendung.

Mosaic

Selbst Marc Andreessen stößt ins selbe Horn, und er ist immerhin der Mann, der mit seinem Webbrowser Mosaic (später: Netscape) die Berners-Lee'sche Revolution beschleunigte. Ob es etwas gäbe, was ihm nach 15 Jahren WWW zu viel geworden sei, fragte ihn Der Spiegel unlängst. Er sagte: "Information. Ich habe einfach zu viel davon." Ganz ehrlich: Das nehmen wir ihm nicht ab.

Es wäre das erste Mal im Leben der Menschheit, dass sie sich über zu viele Informationen beschwert. Das sei ihr zugestanden, doch jetzt einmal im Ernst: Das Sammeln von Informationen mag nicht dasselbe sein wie Wissen - die Vorstufe davon ist es aber schon. Mit dem Web ist nun einmal die Selbstverantwortung des Menschen gewachsen, gefragt ist Eigeninitiative. Man muss (besser: darf) auswählen können. Und je öfter man sich im Web bewegt, desto geschärfter wird der Blick, welche Wege zu gehen lohnen. Rund 1,3 Milliarden Webnutzer weltweit versuchen dies inzwischen, fast jeder Fünfte. Was aber auch bedeutet: 80 Prozent der Weltbewohner wissen noch gar nicht, wie das so ist mit dem Leben im Überfluss. Spätestens jetzt sollte klar sein, warum es hochmütig ist, sich ernsthaft über zu viel Informationen zu beschweren.

Verwerfliche Sozialisation

Manch einer findet es verwerflich, dass durchs Web sozialisierte Menschen beim Stichwort zwitschern nicht mehr an Vögel denken. Sondern Twitter.com meinen, eine Website, die zu erklären einigermaßen leicht ist, das Phänomen zu verstehen eher die Selbsterfahrung braucht.

Twitter ist eine sogenannte Microblogging-Seite, wer sich hier einen Account besorgt, dem steht ein Mix aus SMS, Blog, Chat zur Verfügung. Das heißt, Nutzer können x-beliebige Nachrichten loswerden, die nicht länger als 140 Zeichen sein dürfen, und generieren so eine Art privater Newsticker. Das geht über die Website, aber auch übers Handy und ungezählte Dienste für verschiedene Geräte.

Anderen Menschen folgen

Gleichzeitig kann man dem Ticker anderer Menschen folgen, deren Nachrichten dann auf der eigenen Microblogseite erscheinen. Damit bringt Twitter zwei bedeutende Web-Eigenschaften zusammen: den Community-Gedanken und den des Chats. Die digitale Gesellschaft prophezeit gar einen Einfluss von Twitter auf Hardware. Sascha Lobo, digitaler Bohemien und Autor des Blogs riesenmaschine.de, spekuliert, Twitter könne in Handys bald mit GPS-Ortung verbunden werden - so hätte man immer im Auge, welcher Freund sich in der Nähe befindet, quasi wie aus der Vogelperspektive. Lobo schreibt: "Twitter gibt der Verbindung aus Kommunikation und Ort einen echten Sinn. Denn Kommunikation ist umso relevanter, je näher sie einem ist - auch örtlich."

Rückkoppelung

Und damit ist auch klar, warum Versuche, das Surfen im WWW als "virtuelles", als anderes Leben zu begreifen, nicht ins Schwarze treffen. Das Virtuelle ist längst mit dem echten Leben rückgekoppelt. Wir essen unser Müsli, das wir aus 70 Zutaten selbst gemischt und bei Mymuesli.com bestellt haben. Laden uns für den Urlaub Reiseführer im MP3-Format herunter. Wir drehen auf der Straße Videos, um sie bei Hobnox.com, einer Art Kreuzung aus Myspace und YouTube, zu bearbeiten und einzustellen. Verschicken per Amiando.de Einladungen für unsere Geburtstagsparty. Fiebern jeder neuen Film-Episode bei Nowheremen.net entgegen, einem "social reality game", bei der die Webgemeinde gemeinsam ein Rätsel lösen muss. Was mittels Kommunikation zwischen Menschen immer noch am einfachsten funktioniert.

Neugier neu entfachen

Das Schönste am Netz ist doch: Es schafft es, die Neugier des Menschen ständig neu zu entfachen, und damit seinen Wunsch nach mehr Wissen, seinen Wunsch, die Welt zu erfahren. Eine Computergröße lag übrigens mit seiner Einschätzung zum Potenzial des WWW vor 15 Jahren ganz daneben. "Völlig überschätzt" lautete der erste Kommentar von Bill Gates. Und Tim Berners-Lee? Der ärgert sich heute, bei seiner Erfindung nicht auf den doppelten Schrägstrich in URLs verzichtet zu haben. Denn der sei nun wirklich: völlig überflüssig.(DER STANDARD, Printausgabe vom 15.5.2008)