Berlin - Eine Hirnstudie weckt erneut Zweifel am freien Willen des Menschen. Anhand von Abläufen im Gehirn konnten Berliner Forscher Entscheidungen von Menschen vorhersagen - und zwar schon mehrere Sekunden bevor diese ihre Wahl bewusst getroffen hatten.

Libet-Experiment

Schon vor über 20 Jahren maß der amerikanische Neurophysiologe Benjamin Libet ein Gehirnsignal, das bewussten Entscheidungen um einige hundert Millisekunden vorausgeht. Der Forscher sprach damals von einem "Bereitschaftspotenzial". Die Experimente lösten eine heftige Debatte um die Willensfreiheit aus.

Wenn Entscheidungsprozesse unbewusst ablaufen, so argumentierten Wissenschafter, sei der freie Wille nur eine Illusion. Letztlich entscheide das Gehirn, nicht das "Ich". Kritiker bezweifelten dagegen die Aussagekraft der Daten und begründeten dies vor allem mit der kurzen Zeitspanne zwischen dem Bereitschaftspotenzial und der bewussten Entscheidung.

Neue Studie

Zumindest dieses Argument entkräftet die neue Studie: Die Forscher um John-Dylan Haynes vom Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience untersuchten per Magnetresonanztomographie ebenfalls Veränderungen im Gehirn, die einer bewussten Entscheidung vorausgehen. "Viele Prozesse im Gehirn laufen unbewusst ab - wir wären sonst schon mit alltäglichen Aufgaben der Sinneswahrnehmung und Bewegungskoordination völlig überfordert", sagt Haynes.

"Von unseren Entscheidungen aber glauben wir in der Regel, dass wir sie bewusst fällen. Diese Annahme ist mit unserer Studie infrage gestellt." Die Testpersonen sollten entscheiden, ob sie einen Knopf mit der rechten oder mit der linken Hand betätigen. Danach sollten sie angeben, zu welchem Zeitpunkt sie die Wahl getroffen hatten. Die Forscher wollten ermitteln, wo im Gehirn solche Entscheidungen entstehen und ob dies geschieht, bevor die Wahl bewusst wird.

Ergebnis

Bereits sieben Sekunden vor der bewussten Entscheidung konnten die Wissenschafter aus der Aktivität des frontopolaren Kortex an der Stirnseite des Gehirns vorhersagen, welche Hand die Teilnehmer wählten. Zwar ließ sich die Entscheidung der Personen nur mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 60 Prozent prognostizieren. Dies lag aber noch immer deutlich über der Zufallswahrscheinlichkeit von 50 Prozent.

Die Forscher leiten daraus ab, dass die Entscheidung zwar schon zu einem gewissen Grad unbewusst angebahnt, aber noch nicht endgültig gefallen war. Nach dem Entscheidungsprozess im frontopolaren Kortex werden die Informationen zur Ausführung der Tätigkeit und zur Festlegung des Handlungszeitpunkts in andere Hirnbereiche übermittelt.

Zeitspanne

Bisher hatten Forscher Entscheidungsprozesse nie über eine derart lange Zeitspanne verfolgt. "Normalerweise untersucht man die Hirnaktivität einer Person, während sie eine Entscheidung trifft und nicht schon Sekunden vorher", sagt Haynes und fügt hinzu: "Dass selbstgewählte Entscheidungen vom Gehirn schon so früh angebahnt werden, hat man bisher nicht für möglich gehalten."

Mit der Studie haben Haynes und seine Mitarbeiter zwar manchen Zweifel an Libets Experimenten aus dem Weg geräumt. Dennoch liefert das Resultat keinen Beweis gegen die Existenz eines freien Willens. "Nach unseren Erkenntnissen werden Entscheidungen im Gehirn zwar unbewusst vorbereitet", sagt Haynes. "Wir wissen aber nicht, wo sie endgültig getroffen werden und ob man sich entgegen einer vorgebahnten Entscheidung des Gehirns auch anders entscheiden kann." (APA/AP)