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Reif fürs Museum? – Porträt des Autors vor einer Videoinstallation der 68er-Ausstellung in Frankfurt.

Foto: AP Photo/Daniel Roland

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Nicht leiser, aber weiser: „Danny Le Rouge“ als Wortführer der 68er bei einer Versammlung an der Freien Uni Berlin ...

Foto: AP-Photo/Reichert

... und als 2008er im Einsatz für die Grüne Fraktion im EU-Parlament.

Foto: Matthias Cremer
Im ersten wilden Streik der Geschichte Frankreichs gingen damals acht Millionen Menschen auf die Straße. – Was blieb davon?

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Dany, Sie sind so erfolgreich, aber lassen Sie sich nicht von linksextremen Kräften manipulieren, die Sie dazu bringen würden, alles zu zerstören, das aus dem entstehen könnte, was Sie gerade schaffen.“ Vierzig Jahre später haben diese am 22. März 1968 von Jean Baudrillard – damals Assistenzprofessor an der Universität Nanterre – gesprochenen Worte noch immer ihre Gültigkeit. Möglicherweise enttäusche ich meine Anhänger und die von „der Revolte“ Faszinierten, aber ich bin nicht der Anführer einer Revolution, die angeblich im Jahr 1968 stattgefunden hat. Vergessen Sie das: „68“ ist vorbei – begraben unter Pflastersteinen, selbst wenn diese Pflastersteine Geschichte geschrieben und einen radikalen Wandel in unseren Gesellschaften herbeigeführt haben. Das erscheint auf den ersten Blick unverständlich. Aber wie ich schon in meinem Interview mit Jean-Paul Sartre im Le Nouvel Observateur klargestellt habe, war ich nur das Sprachrohr der Rebellion. „1968“ symbolisierte also das Ende der Revolutionsmythen – zum Vorteil der Befreiungsbewegungen von den 1970er-Jahren bis heute. Letztlich war die Welt der 1960er-Jahre – die erste live im Radio und im Fernsehen übertragene globale Bewegung – durch eine Vielzahl miteinander in Zusammenhang stehender Revolten definiert. Der durch „68“ eingetretene Wandel betraf vor allem die traditionelle Kultur, den bornierten Moralismus und das Prinzip der hierarchischen Autoritäten. Er veränderte das soziale Leben, die Art zu sein, zu sprechen, zu lieben und so weiter. Aber trotz ihres Ausmaßes vermied diese Bewegung Gewalt, um dadurch eine neue Art von Rebellion zu schaffen. Studenten, Arbeiter und Familien – sie alle hatten ihre jeweiligen legitimen Forderungen und näherten sich dennoch im gemeinsamen Wunsch nach Emanzipation einander an. Die Revolte war eine Form politischen Ausdrucks, aber ihr Ziel war nicht die Ergreifung der politischen Macht als solcher. Tatsächlich war sie aufgrund ihres existenziellen Wesens „nicht in Politik übersetzbar“. Die von der Sehnsucht nach Freiheit angetriebene Bewegung entzog sich zwangsläufig archaischen Denkweisen. Aus diesem Grund konnten die sterilen Kategorien politischer Tradition aus den Ereignissen auch keinen Gewinn ziehen. In Frankreich war der Konservatismus sowohl bei Linken als auch Rechten derart tief verwurzelt, dass beide Seiten den Sinn der Bewegung nicht erkannten und nur in stereotype Interpretationen von Revolutionen zurückfallen konnten. Die Utopie der Anarchisten von umfassender Selbstverwaltung – in Anlehnung an überholte historische Beispiele – erschien gänzlich unpassend. Ausgehend von der anfänglichen Ablehnung politischer Institutionen und des Parlamentarismus verstanden wir erst später, dass die demokratische Herausforderung in der Einnahme eines politisch „normalisierten“ Raumes besteht. Angesichts der Anarchisten mit ihrer einschränkend minimalistischen politischen Grammatik – die sich im berühmten Slogan „elections, piege à cons“ („Wahlen, eine Falle für Idioten“) widerspiegelte – und angesichts einer kommunistischen Partei, deren revolutionäres Ideal letztlich mit der totalitären Spielart von Gesellschaft verknüpft wurde, konnte sich die Zukunft im Mai 1968 mit dem Wahlsieg von General de Gaulle nur nach rechts bewegen. Es war also unbestreitbar ein politischer Fehlschlag. Ebenso unbestreitbar ist allerdings die enorme Erschütterung unserer überkommenen Konzepte von Gesellschaft, Moral und Staat. Als Kampfansage gegen den Autoritarismus löste die Revolte eine Explosion im Herzen der für Frankreich typischen dualen Machtstruktur aus, die einen dominanten Gaullismus mit einer kommunistischen Partei verband, die sich der Arbeiterklasse annahm. Die Radikalität des Umbruchs führte daher letztlich zur Freisetzung der Lebensfreude. Mit einer neuen Generation entstehen neue politische Vorstellungen und neue auf Wände gemalte poetische Parolen. Symbolisiert wurde dieses surrealistische Wesen der Rebellion irgendwie durch ein berühmtes Foto von Gilles Caron, auf dem jemand einen während der Unruhen eingesetzten Polizisten frech angrinste und damit die erstarrte, etablierte Ordnung bis zu einem Punkt untergräbt, an dem sie lächerlich erscheint. Natürlich haben manche das Ende der Ekstase dieser fünf Wochen der Verrücktheit und der Freude nie überwunden, während andere immer noch darauf warten, dass „68“ in Gott weiß was für einen Tag der Tage gipfelt. Ich für meinen Teil habe das „Realitätsprinzip“ vor langer Zeit akzeptiert, ohne „revolutions“-Nostalgie – und ohne die Bedeutung der Geschehnisse zu bagatellisieren. Denn „68“ war tatsächlich eine Rebellion, die zwei Zeitalter verband. Das Joch des Konservatismus und totalitären Gedankengutes wurde abgeschüttelt und es wurde möglich, dass Sehnsucht nach persönlicher und kollektiver Autonomie und Freiheit ihren Ausdruck finden konnten. Aus kultureller Sicht haben wir gewonnen. Also, „68“ noch einmal durchkauen? Ja, aber nur um es zu verstehen, seine Ausmaße zu begreifen und das zu erhalten, was für heute sinnvoll ist. Zu wissen, dass 23 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein buntes Frankreich gegen meine Ausweisung mit der Behauptung „Wir sind alle deutsche Juden“ demonstrierte, ist zum Beispiel ein Denkanstoß. Allerdings rechtfertigt das keine voreiligen Vergleiche – und noch weniger die Identifizierung – aller Proteste von heute mit „68“. Nach vierzig Jahren hat sich der Kontext radikal verändert. Die Welt des Kalten Krieges ist ebenso Vergangenheit wie Schulen und Fabriken, die wie Kasernen organisiert waren, autoritäre Gewerkschaften, Schwulen-Beschimpfungen und die Verpflichtung der Frau, die Einwilligung ihres Ehemannes einzuholen, wenn sie arbeiten oder ein Bankkonto eröffnen wollte. Diese Welt ist einer multilateralen Welt gewichen, zu der AIDS, Arbeitslosigkeit, Energie- und Klimakrisen und vieles mehr gehören. Erlauben wir es daher nachfolgenden Generationen, ihre eigenen Kämpfe und Sehnsüchte zu definieren. Die Entmystifizierung von „68“ entlarvt auch den Vorwand derjenigen, die dieses Jahr für jedes Unrecht von heute verantwortlich machen wollen. Weil die 68er den Slogan „Es ist verboten, zu verbieten“ auf die Wände schrieben, werden sie von manchen für die Gewalt in den Städten, den extremen Individualismus, die Bildungskrise, die überhöhten Abfinden der Top-Manager, den Niedergang der Autoritäten und – warum nicht? – auch für den Klimawandel verantwortlich gemacht. Diese Menschen erhoffen sich, so ihrer Verpflichtung, die Probleme von heute zu erklären, entkommen zu können. Wie soll das sonst interpretiert werden, wenn nicht als politischer Trick, der darauf abzielt, die Modernisierung des Ausdrucks zu sabotieren und dabei jede rationale Debatte im Keim zu ersticken? (DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.5.2008)