Wien - Gleich neben den Normalbürgern mit ihren Problemchen leben die Outcasts in anrüchigen Favelas - Rio de Janeiro ist eine Stadt der krassen Kontraste. Die Festwochen zeigen dieses Realmodell einer größeren, globalen Wirklichkeit in dem Projekt Crianças Cariocas - Kinder Rios im brut Künstlerhaus mit zwei ganz und gar verschiedenen Aufführungen: das Schauspiel Die Lücke, die uns bewegt, oder Alle Geschichten sind Fiktion von Christiane Jatahy und die Performance-Installation TV Morrinho Live der Grupo Morrinho unter Fabio Gavião und Markão Oliveira.

Jatahy subvertiert in ihrer Arbeit über die Sinnkrise der brasilianischen Mittelklasse den Blick des liberalen europäischen Theaterbourgeois mit einem einfachen Trick.

Die Lücke enthält ein ganzes Bündel von Imitaten bekannter Theaterdiskurse: die Aufhebung der Barriere zwischen Performer und Publikum, das Verwischen der Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit, Geschichten innerhalb einer Geschichte, das Eindringen der Popkultur ins Drama et cetera. Das Stück kommt als Mischung zwischen Soap-Ästhetik und belgischem Theaterstil à la Tg. Stan in virtuos schrottiger Technik daher. Anders ist die Geschichte scheiternder brasilianischer Thirtysomethings nicht "realistisch" darstellbar. Die Schauspieler hantieren ergebnislos mit Objekten im Zentrum der Bühne: mit Essenszutaten, Getränken und Geschirr auf einem überfüllten Tisch. Dieser Altar, der ein gemeinsames Dinner verspricht, ist die Peripherie der um diese kreisenden Handlung.

Diese und die Geschichten, die die Figuren auf der Bühne einander und dem Publikum andrehen, sind schwach. Die Konversation ist lächerlich bis hin zur Küchenphilosophie: "Nietzsche sagte: Der Weihnachtsmann ist tot."

Umso sichtbarer schiebt sich durch diese Unterhaltung eine unaufgearbeitete Geschichte der brasilianischen Militärdiktatur, die 1985 in einer galoppierenden Inflation endete. Und unter dem Geplappere versteckt sich in dem Text eine komplizierte Verfältelung politischer Diskurse, die von Tendenzen zur Flucht ins Private handeln. Popstars werden zitiert, Rekurse auf die Eighties zelebriert, als das Ich noch großgeschrieben wurde.

Ganz im Heute und hinter dem Trennvorhang steht TV Morrinho Live, eine Live-Legofiguren-Animation in einem nachgebauten Slum, die über mehrere Kameras auf eine Leinwand übertragen wird: witzig kitschig, aber dumm sexistisch. Trash as Trash can. Die "andere Seite" spielt mit den Spielen der Hochkultur. Und zeigt sich als sehr lebendig. (Helmut Ploebst, DER STANDARD/Printausgabe, 19.05.2008)