Ein Viertel der Uni-Absolventen in China hat auch sechs Monate nach dem Abschluss noch keinen Job. Wie sich junge Chinesen vom Land trotzdem in der Hauptstadt Peking durchschlagen, zeigt das Beispiel eines 26-Jährigen, der eigentlich einmal Englischlehrer werden wollte.

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"Noch 400 Tage bis zu den Olympischen Spielen", verkündete eine Anzeigetafel Anfang Juli letzten Jahres noch vom Pavillon des Spielplatzes. Die Anzeige des Nachbarschaftskomitees war zwar nicht so pompös wie die riesigen digitalen Countdownstationen, die an den Verkehrsadern der Hauptstadt aufgestellt worden waren. Doch erfüllte sie mit ihren losen bezifferten Papiertafeln, die jeden Tag eigenhändig umgeblättert werden mussten, durchaus ihren Zweck. Seit kurzem hatten sich sogar zwei Tischtennistische zu den bunt lackierten Turngerätschaften auf dem Spielplatz gesellt, an denen sich Anrainer jeden Alters enthusiastisch übten.

Ja, dies war das Zentrum der Welt für die sieben Blöcke der Wohnanlage. So formulierte es Li Xiaopu, der vor ein paar Tagen hierher, in den Westen Pekings, unmittelbar neben die Dritte Ringstraße gezogen war. Seine Heimatstadt Changchun liegt eine Nachtfahrt mit dem Zug entfernt im Nordosten des Landes in der Provinz Jilin, aber so hätte er das nie gesagt. Denn für ihn gab es dort kein Land und keine Provinz, sondern einzig und allein die Mandschurei, der die Regierung der Volksrepublik die Unabhängigkeit verwehrte.

Auf der Suche nach Arbeit war Li Xiaopu schon vor einem Jahr nach Peking gekommen. Da er beim berüchtigten Gaokao, der Hochschulaufnahmeprüfung, zu wenig Punkte erreicht hatte, musste er an einer lausigen Universität im Landesinneren studieren. Nach seinem Studienabschluss wollte er eigentlich Englischlehrer werden, doch mittlerweile sei er mehr oder weniger flexibel, sagt der 26-Jährige von sich selbst. Als einer unter Millionen arbeitslosen Universitätsabsolventen in China hat er bereits vom bitteren Brot der Realität gekostet.

Nach ungezählten gescheiterten Bewerbungsversuchen probierte er es sogar einmal als Reiseleiter. Nach ein paar Monaten im Fortbildungsprogramm allerdings wurde ihm auch diese Hoffnung verleidet. Der Reiseleiterberuf schien in China nicht mehr zu bedeuten, als Touristen zur richtigen Zeit zum richtigen Souvenirshop zu führen. Ein fragwürdiges Metier also und mit Li Xiaopus Idealen - auch da war er immer ganz radikal - grundsätzlich nicht vereinbar.

Dann gab es da noch die Auseinandersetzungen mit der herrschsüchtigen Tante, bei der er, neu in Peking, der Stadt der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, Unterschlupf gefunden hatte. Vor allem der Cousine zuliebe, die ihm als Folge der Ein-Kind-Politik immer wie eine Schwester war, hatte er die Tyranneien der Tante lange ausgehalten.

Sein neues Zuhause war nun nicht wirklich geräumig, aber die Freiheit und Unabhängigkeit waren es wert. Eigentlich bestand es ja nur aus dem unteren Lager eines Stockbetts in einem Zimmer, das er sich mit drei anderen teilte. Das war aber immer noch besser als im anderen Raum der Wohnung, wo gleich acht Mieter untergebracht waren. An das enge Zusammenleben hatte er sich schon früh gewöhnen müssen - in seinen Studienjahren zum Beispiel logierte er mit neun Studienkollegen in so etwas wie ausgedienten Klassenzimmern. Und außerdem war da eben noch der Spielplatz mit dem Pavillon, den Turngeräten und den neuen Tischtennistischen.

Das Einzige, das seine Euphorie über das neue Heim etwas schmälerte, war die Tatsache, dass die Wohnung im Erdgeschoß lag. Das war zwar preiswert, brachte jedoch einen großen Nachteil mit sich: Kakerlaken. Da aber ohnehin geplant war, die Küche der Wohnung herauszureißen, um den Raum als Luxuseinzelzimmer zu vermieten, gab es Hoffnung. Eine Küche würde ohnehin nicht gebraucht, Straßenmärkte gebe es genug in der Umgebung, meinte der Vermieter, der irgendwie auch etwas Tyrannisches an sich hatte, und dann war da immer noch dieses Arbeitsproblem ... nun ja, nur noch 400 Tage bis zu den Olympischen Spielen, an einem solchen Tag sollte man sich nicht den Kopf zerbrechen! (Arnhilt Johanna Höfle, DER STANDARD, Printausgabe, 13.5.2008)