Patient im Griff, Politik aus den Fugen. Warnung des Systemkritikers: Veränderungsresistenz kann Ihre Gesundheit gefährden.

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Die aktuelle Gesundheitsreform wird von der Bundespolitik und den Sozialpartnern gefeiert, von den Ärzten und von verschiedenen anderen Professionisten und Verantwortlichen im Gesundheitssystem jedoch heftig kritisiert. Zu Recht, denn sie stellt erstens einen Schritt zur Rationierung von Leistungen und zweitens alles andere als eine echte Reform dar, weil die strukturellen Probleme des Gesundheitswesens wieder nicht gelöst werden. Veränderungen, welche die prinzipiellen Mankos unseres Gesundheitssystems unberührt lassen, bewirken nichts, sondern machen die Dinge in Wirklichkeit nur noch schlimmer.

Die angesprochenen und auch nach der aktuellen "Reform" weiterhin bestehenden Grundprobleme des österreichischen Systems heißen Beitragsfinanzierung und Föderalismus. Die Finanzierung der Krankenkassen über einkommensabhängige Beiträge von Berufstätigen ist im Zeitalter der Umkehrung der Alterspyramide und der rasant wachsenden Pensionistenzahlen ein untaugliches Geldbeschaffungskonstrukt geworden, welches zum Scheitern verurteilt ist. Für eine demografisch völlig anders aufgebaute Gesellschaft ist ein Finanzierungssystem, welches aus dem 19. Jahrhundert stammt, nicht mehr geeignet. Die Unzulänglichkeiten liegen auf der Hand: Eine lohnabhängige Umlagefinanzierung bei im Verhältnis stetig weniger werdenden Berufstätigen und Beitragszahlern kann so nicht mehr funktionieren. Eine grundsätzlich andere Finanzierungsform, etwa über Steuern und fixe Gesundheitspauschalen, ist daher unumgänglich.

Schrebergartenökonomie

Der Föderalismus als zweiter Kardinalfehler des Gesundheitswesens stellt eine definitiv unsinnige Philosophie dar, weil er außer einer Flut von unterschiedlichen Landesgesetzen und verschiedenen Honorar- und Vergütungstarifen nichts Produktives zu bieten hat und weil er eine kostenintensive Schrebergartenwirtschaft befördert. Der Föderalismus in der Krankenversorgung ist im sogenannten Paragraf-15a-Vertrag verfassungsmäßig festgeschrieben, niemand kann diesen Vertrag reformieren - außer die Regierung mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Eine Große Koalition könnte das problemlos durchführen. Was aber nicht geschehen wird, denn die Länderfürsten aller Ebenen sind dagegen. Machtdenken verhindert hier rationale Entscheidungen.

Der einzig brauchbare Vorschlag im mittlerweile berühmt-berüchtigten und umkämpften Sozialpartner-Papier, nämlich die geplante Finanzierung aus einer Hand durch die Bildung einer gesamtösterreichischen Holding, wird daher aus den eben genannten Gründen scheitern oder höchstens Makulatur bleiben, im schlimmsten Fall aber zu einer Machtkonzentration beim Hauptverband führen.

Die anderen im Papier geäußerten Ideen wie die Aut-idem-Regelung, nach der die Ärzte nur Wirkstoffe und keine namentlich genannten Präparate mehr verschreiben dürfen, bringt bei deren Umsetzung nur Peanuts: Die Gesamtkosten für Medikamente belaufen sich auf etwa 13% des Gesundheitsbudgets. Selbst eine Einsparung von 10% an Medikamentenkosten würde dem System insgesamt nur 1,3 % ersparen. Davon wird das System kaum genesen. Überdies erhalten die Patienten dann Präparate, die nur zu 80% dem Original gleichen müssen, also in Wirklichkeit etwas anderes sind. Fraglos eine potenzielle Verschlechterung für den Patienten, ja manchmal sogar eine Gefährdung desselben.

Die Patientenquittung ist eine sinnlose Bürokratieschikane, die weder das Kostenbewusstsein steigert noch sonst etwas bringt. Klüger wäre es, endlich klare und allgemeine Selbstbehalte für alle einzuführen. Nur dadurch kann man Kostenbewusstsein erzeugen. Bei den kleinen Kassen funktioniert das hervorragend, die dort Versicherten sind kritischer und besser informiert. Weil sie Selbstbehalte haben.

Auch die geplante Befristung von Kassenverträgen ist mehr ein machtpolitischer Angriff auf die "teuren Ärzte" als eine sinnvolle Neuerung. Wo werden die Patienten eines gekündigten Vertrags-Arztes wohl hingehen? Natürlich zu einem anderen Kassenarzt. Und sie werden dort die gleichen Kosten verursachen wie vorher. Nur dass die Wartezeiten länger werden, also die Versorgung de facto auch hier schlechter wird. Wenn außerdem die ersten Ärzte einmal gekündigt sind, werden die anderen aus Existenzängsten die billigstmögliche Medizin anbieten, was unweigerlich ebenfalls zu einer Verschlechterung für die Patienten führt.

Übrigens ist die aus dem Sozialpartner-Papier herauslesbare sublime Unterstellung, die Ärzte wären nur Kostenverursacher im System, eine perfide Argumentationslinie: Wer bitteschön soll die medizinischen Leistungen für die Patienten erbringen - wenn nicht die Ärzte? Und freilich kann professionelle medizinische Hilfe nicht gratis sein, das gibt es nirgendwo.

Gezielte Irreführung ...

Alle genannten Sparvorschläge und Reformschritte bedeuten unterm Strich Rationierungen. Das wird dem Bürger aber so nicht gesagt. Durch rhetorische Stellvertreterkriege soll die Wahrheit verheimlicht werden. Wenn man die Ärzte oder auch die böse Pharmaindustrie zu Sündenböcken erklärt, kann man geplante Rationierungen besser durchziehen. Es wirkt politisch eleganter, Ärzten eine zu teure Arbeitsweise zu unterstellen als dem Patienten zu sagen, dass für ihn in Zukunft weniger Geld da ist. Will heißen: Alle Einsparungen an der medizinischen Front schlagen letztlich immer auf den Patienten durch. Wird also das Sozialpartner-Papier umgesetzt, bedeutet das für den Patienten, weniger Original-Präparate zu erhalten, längere Wartezeiten erdulden zu müssen, weitere Wege in Kauf zu nehmen etc. Anders gesagt, die Versorgung wird solcherart zurückgefahren.

Diese verdeckten Rationierungen, die letztlich auf die eingangs beschriebenen Strukturen unseres fundamental änderungsbedürftigen Gesundheitssystems zurückzuführen sind, stellen gezielte Irreführungen der zahlenden Bürger dar. So trivial es ist, so gerne wird es auch vergessen: Nicht die Sozialpartner, die Kassen oder die Politiker berappen für die Krankenversorgung, sondern der Bürger. Und dem Zahler steht es zu, dass die Strukturprobleme des Systems seriös gelöst werden. Sowie es ihm im Falle einer Krankheit zusteht, eine gute Versorgung zu erhalten.

... der Beitragszahler

Dies zu garantieren ist in letzter Konsequenz die Aufgabe der gewählten Volksvertreter im Parlament. Es zeugt von der schon oft beschriebenen Schwäche der Großen Koalition, dass diese dazu offenkundig nicht in der Lage ist und substanzielle Angelegenheiten wie die Neuordnung der Krankenversorgung der wieder erstarkten Nebenregierung "Sozialpartnerschaft" überträgt. Unschwer zu prophezeien, dass der Reform-Jammer weitergehen wird und wir spätestens in der nächsten Legislatur-Periode die x-te Neuauflage der mittlerweile schon zu einer Gesundheitsgefährdung des Bürgers mutierten Gesundheitsdebatte erleben werden. (DER STANDARD Printausgabe, 20. Mai 2008)