Die Diskussion zur Gesundheitsreform beschränkt sich zwischen den Experten derzeit auf den Konflikt zwischen ökonomischen Interessen und Zwängen, wie sie vor allem von Seiten der Zahler (Staat und Versicherer) und der potentiellen Verdiener (Privatwirtschaft) gesehen werden, und der Angst der Ärzte vor einer Reduktion von Krankheit und Gesundheit auf eine marktfähige Handelsware, und vor Fremdbestimmtheit des eigenen Handelns durch Kontrolle von außen.

Was dabei fast untergeht ist die Tatsache, dass nur vordergründig über Geldflüsse und Einsparmöglichkeiten entschieden wird. In der buchstäblich hautnahen Wirklichkeit wird mit diesen Entscheidungen festgeschrieben, in welchem Umfeld, mit welcher Haltung und welchen Möglichkeiten kranken und gesunden Menschen in Zukunft begegnet werden werden kann.

Teil der angestrebten Kontroll- und Aufsichtsmaßnahmen ist die Verpflichtung zur „Einhaltung festgelegter Behandlungsleitlinien und –richtlinien“ unter Androhung der Vertragskündigung. Die Beurteilung erfolgt dabei durch die Sozialversicherung.

Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen. Die Dimension dieses Vorschlags in seinen unmittelbaren Auswirkungen auf den Patienten erschließt sich erst, wenn man sich damit auseinandersetzt, was medizinische Leitlinien sind, wie sie erstellt werden, und wozu sie dienen.

Leitlinien sind Grundlagen

Leitlinien sind definitionsgemäß „systematisch entwickelte Empfehlungen, die die Grundlagen für die gemeinsame Entscheidung von Ärzten und deren Patienten zu einer im Einzelfall sinnvollen gesundheitlichen Versorgung darstellen.“

Bis vor nicht allzu langer Zeit ergab sich die Regel der ärztlichen Kunst aus Wissen, Erfahrung und Überzeugung von als Autoritäten anerkannten Ärzten. Inzwischen hat Art und Umfang medizinischen Wissens diese Praxis überholt, für den einzelnen Arzt ist es längst nicht mehr möglich, einen aktuellen und allseits anerkannten State of the Art herauszufiltern. Leitlinien sind der Versuch, objektiviertes, gesichertes Wissen („Evidenz“) auf aktuellstem Niveau zu sammeln, nach verbindlichen Regeln zu werten und Empfehlungen für die Praxis abzuleiten.

Sie sind Instrumente des Wissenschaftstransfers in die Praxis und für eine rationale Entscheidungsfindung unverzichtbar geworden. Der Umgang mit Leitlinien erfordert professionelle Kompetenz und Urteilskraft - vielleicht noch mehr als das früher gefordert war, wo das Befolgen von Expertenmeinungen ausreichende Sicherheit bot (zumindest was rechtliche Konsequenzen und das eigene Gewissen anlangt!), denn in der Erstellung und Verbreitung von Leitlinien lauern so zahlreiche Fallen, dass sich eine Verwendung für die Normierung von Behandlungsabläufen eigentlich von selbst verbietet.

Leitlinien werden in einem mehrstufigen Prozess entwickelt. Zunächst wird gesichertes Wissen gesammelt, die „Evidenz“. Aus den gewonnenen Fakten werden in einem strukturierten Prozess Empfehlungen formuliert, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Praxis umsetzbar machen sollen. Auf jeder dieser Entwicklungsstufen kann es zu Verzerrungen kommen. Um nur einige herauszugreifen:

• Große Studien werden vor allem zu Medikamenten gemacht. Und da vor allem zu solchen Medikamenten, die hohe Umsätze erwarten lassen: Auftraggeber und Finanzierer dieser Studien sind aufgrund der hohen Kosten große Pharmafirmen. Studien, die negative Ergebnisse für den Auftraggeber bringen, werden sehr viel seltener publiziert als solche mit positiven Daten, was die Evidenzlage beträchtlich verzerrt.

  • !!! Multimorbide Patienten sind fast nie, alte und sehr junge Patienten sehr selten einbezogen, diese machen aber den größten Teil der Patienten aus. Auch kulturelle und genderassoziierte Unterschiede werden meist nicht berücksichtigt, daher sind die Ergebnisse auf diese große Patientengruppe nicht ohne weiteres anwendbar.

  • Bei der Bewertung der Studienergebnisse und der Ableitung von Empfehlungen, spielen Beeinflussungen durch die Zusammensetzung der Arbeitskreise eine Rolle, nicht–deklarierte Interessenskonflikte (finanzielle Verflechtungen mit pharmazeutischen Firmen) bei den Mitgliedern sind schwer in den Griff zu bekommen. Letztlich ist jede aus der vorliegenden Evidenz abgeleitete Empfehlung ein Ergebnis von „Verhandlungen“ innerhalb der Arbeitsgruppe, in die jedenfalls subjektive Kriterien einfließen.

    Trotz der Vereinheitlichung des Entwicklungsprozesses resultieren aus den gleichen Fakten in verschiedenen Arbeitsgruppen verschiedene Empfehlungen: zu den meisten größeren Themen existieren mehrere seriöse Leitlinien, die sich voneinander unterscheiden. Echte Leitlinien kosten sehr viel Geld, aufgrund des hohen Aufwandes gibt es sie längst nicht zu allen Fragestellungen - und es gibt sehr viel mehr “Leitlinien“ die in Wirklichkeit nicht mehr sind, als ein Konsensus aus Expertenmeinung, sowie etliche Abstufungen zwischen beiden.

    . . . für die gemeinsame Entscheidung von Ärzten und deren Patienten

    Echte Leitlinien sind dennoch das Beste, was wir haben – aber noch lange nicht die Wahrheit, nicht einmal die objektive, von der subjektiven ganz zu schweigen: Wir Ärzte haben kein Recht, unsere Patienten zu einer leitliniengerechten Behandlung zu zwingen, um uns selbst abzusichern, umso weniger die Versicherer. Wir haben auch kein Recht, uns auf die mechanische Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beschränken, wissend, dass diese uns nur einen Teil der Entscheidung abnehmen können. Dass Entscheidungen nachvollziehbar und erklärbar sein müssen, dass es „Therapiefreiheit“ nur innerhalb dieser Grenzen geben kann, muss dabei immer klar sein.

    Wenn durch Kontrollinstanzen von außen Druck ausgeübt wird, nach den Buchstaben von Leitlinien zu behandeln, statt nach ihrem Geist, muss der Patient die Folgen mittragen.

    Patientengerecht wird es erst dann, wenn wir unter Abwägung aller anderen individuellen Umstände die jeweils am ehesten leitlinienkonforme Behandlung anbieten. Dabei sind neben bestmöglicher Evidenz so vielfältige Faktoren mit einzubeziehen, wie die angemessene Wahrnehmung des Patienten, seiner Anliegen und Symptome, psychosoziale und kulturelle Hintergründe, Komorbiditäten. Voraussetzung dafür ist eine tragfähige Arzt – Patient Beziehung. Das ist es, was unseren Beruf so faszinierend macht – und so anstrengend. Der Verpflichtung zum Handeln entsprechend den Regeln der Kunst ist längst gesetzlich geregelt.

    Kontrolle und Steuerung ist notwendig zur Qualitätssicherung, dass die Sozialversicherung Kontrollinteressen hat, ist legitim. Allerdings muss das Ziel jeder Maßnahme unter Mitbestimmung der relevanten Experten gesetzt werden, klar erkennbar sein, und in erster Linie der Zufriedenheit und Sicherheit der Patienten, aber auch der beruflichen Zufriedenheit der im Gesundheitsbereich Tätigen dienen. (derStandard.at, 21.5.2008)