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Über Musik als gesellschaftlichen Faktor: "Nur der Mensch folgt spontan dem Rhythmus der Musik!"

Oliver Sacks (74), in New York lebender britischer Neurologe, wurde einer breiteren Öffentlichkeit durch seine populärwissenschaftlichen Sachbücher mit medizinischen Fallstudien bekannt. Seine Bücher, darunter "Zeit des Erwachens", "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" oder "Der Tag, an dem mein Bein fortging", in denen Sacks Krankheits- und Lebensgeschichten einiger seiner Patienten - und mitunter auch über sich selbst - erzählt, erreichten Millionenauflagen und wurden in viele Sprachen übersetzt. 2007 folgte Sacks einem Ruf an die Columbia University, wo er neben klinischer Psychiatrie und Neurologie auch Vorlesungen über Musik und das Gehirn hält. Sein jüngstes Buch, "Musicophilia. Tales of Music and the Brain", befasst sich ebenfalls mit diesem Thema. Sacks lebt in New York City, wo er seine Arztpraxis führt, schreibt regelmäßig für Magazine wie den "New Yorker" und pflegt seine Leidenschaft für Farne, der auch das Buch "Die feine New Yorker Farngesellschaft" entsprungen ist. Im Juni erscheint "Musicophilia" unter dem Titel "Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn" auf Deutsch bei Rowohlt.

Foto: Corbis
Mit dem britischen Neurologen sprach Julia Kospach über Partituren als Bettlektüre, Ohrwürmer und die Macht der Marschmusik.

Standard: Herr Sacks, was bedeutet es, musikalisch zu sein?

Sacks: Allgemein bedeutet es, ein gutes Gefühl für Klang, Tonhöhe und Rhythmus zu haben. Dazu gehört auch, für Musik sensibel zu sein, ihre komplexen Strukturen zu schätzen und emotional darauf reagieren zu können.

Standard: Bildet sich diese Fähigkeit in der Struktur des Hirns ab?

Sacks: Das Hirn eines Musikers zeigt, verglichen mit dem eines Nichtmusikers, Unterschiede, die sogar mit freiem Auge zu erkennen sind: Der Corpus callosum, der Balken zwischen den zwei Großhirnhälften, ist vergrößert, ebenso die graue Masse der Nervenzellen und interessanterweise auch einige der Hirnareale, die für visuelle Wahrnehmung und Motorik zuständig sind. Ein Anatom kann kein Hirn anschauen und sagen: "Das ist das Hirn eines Mathematikers", obwohl man das versucht hat, als Gauß starb! Man muss hingegen kein großer Fachmann sein, um die Hirnstruktur eines professionellen Musikers zu erkennen.

Standard: Ist das von Natur aus so, oder entwickelt es sich durch die intensive Beschäftigung mit Musik?

Sacks: Natürlich erhalten musikalisch sehr begabte Kinder meistens auch eine musikalische Ausbildung. Untersuchungen zeigen aber, dass zumindest ein Teil der Veränderungen des Hirns das Resultat von musikalischem Training ist und sich ziemlich rasch einstellen kann.

Standard: Ist die Beschäftigung mit Musik eine derart komplexe Angelegenheit, dass sie sich deswegen sichtbar in der Hirnstruktur abbildet?

Sacks: Das ist einer der Gründe. Ein anderer ist die ungeheure Intensität, mit der Musik aufs Hirn wirkt. Die Macht von Musik scheint ganz ungewöhnlich stark zu sein.

Standard: Gibt es auch andere Tätigkeiten, die Spuren im Hirn hinterlassen?

Sacks: Eine englische Studie hat sich mit dem Hirn von Londoner Taxifahrern beschäftigt. Diejenigen von ihnen, die das sogenannte "Wissen" besitzen, weil sie die Wegstrecken einer sehr komplizierten Stadt kennen, verfügen über einen vergrößerten Hippocampus, den fürs Gedächtnis zuständigen Teil des Hirns. Wieder stellt sich die Frage, ob sie diese Vergrößerung schon von Natur aus hatten oder ob sie das Ergebnis der sehr intensiven, dreijährigen Taxifahrerausbildung ist. Mit New Yorker Taxifahrern müsste man eine solche Studie jedenfalls erst gar nicht versuchen! Die verirren sich nämlich dauernd!

Standard: In Ihrem neuen Buch "Musicophilia" beschreiben Sie unter anderem, wie sehr Musik in Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Hirnschäden heilsam wirken kann. Ist die Musiktherapie das neurologische Heilmittel schlechthin?

Sacks: Natürlich gibt es Grenzen, aber es ist beeindruckend und leicht zu zeigen, dass Musik Menschen mit Parkinson oder Demenz, deren motorische Fähigkeiten beeinträchtigt sind, dabei hilft, sich koordiniert zu bewegen. Positive Auswirkungen stellen sich auch bei Aphasie-Patienten ein - allerdings erst nach langem Training.

Standard: Erst seit den 1990er-Jahren gibt es funktionelle Magnetresonanztomografien, die aktive Bereiche im Hirn bildhaft und in Echtzeit darstellen können. Was ist das Überraschendste, das diese neuen Verfahren in Bezug auf Musik und das Hirn ans Licht gebracht haben?

Sacks: Musiker haben immer schon gesagt, dass mentales Üben ebenso wichtig sei wie das Üben am Instrument. Durch die neuen Verfahren ist bestätigt worden, dass das Denken von Musik dieselben Bereiche des Hirns aktiviert wie das Musikhören oder das eigentliche Spielen. Die neurologische Realität der Imagination von Musik konnte bestätigt werden.

Standard: Ob man dieses Wissen in Kinderhände weitergeben sollte? - "Nein, ich muss heute nicht mehr Klavier üben - ich habe schon eine Stunde im Kopf geübt!"

Sacks: Das Imaginieren von Musik ist wirklich wichtig. Es funktioniert anders, als wenn man sich zum Beispiel ein Gesicht vorstellt. Musik ist eine Aktivität. Sie bezieht die Muskeln mit ein. Sogar wenn Menschen, ohne dass man es äußerlich wahrnähme, im Rhythmus einer Musik bleiben, tut das Hirn dasselbe wie bei rhythmischer Bewegung. Neue Studien zeigen, dass Menschen tatsächlich spontan dem Rhythmus einer Musik folgen. Kein anderes Lebewesen, auch kein anderes Säugetier, tut das. Es ist wirklich eine primäre menschliche Eigenschaft und gewiss eine, die ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt. Dass Körper im Tanz miteinander einem Rhythmus folgen, ist ein wesentlicher gesellschaftlicher Synchronisationsfaktor.

Standard: Womit auch die Macht von Marschmusik erklärt wäre?

Sacks: Ganz genau. Es erzeugt einen gemeinsamen Geist. Genauso funktioniert das auch bei Parkinson-Patienten. Selbst wenn ein Parkinson-Kranker nämlich nicht imstande ist, von sich aus eine Bewegung in Gang zu setzen, so kann er doch zum Rhythmus einer Musik tanzen oder marschieren.

Standard: In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Frau mit einer sehr starken Amusie. Man würde doch erwarten, dass jemand, der so überhaupt keine Begabung für Musik hat, auch Schwierigkeiten mit Sprache hat. Das ist aber nicht der Fall.

Sacks: Als Kind hatte sie im Musikunterricht ziemliche Probleme. Die Lehrer und die anderen Schüler sagten zu ihr: "Wenn du taub wärst, könnten wir das verstehen, aber so? Wie ist es möglich, dass du für Musik so taub bist?" Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass Menschen wie diese Frau in Tests schlecht abschneiden, in denen es darum geht, von Sätzen, denen der Sinnzusammenhang genommen wurde, nur die tonale, rhythmische Kontur zu verstehen. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass stark amusische Menschen die musikalischen Komponenten von Sprache gänzlich durch Grammatik und Satzbedeutung ersetzen.

Standard: "Happy Birthday" spielte diese Frau auf dem Klavier ausschließlich nach der Abfolge von Handbewegungen, die sie sich auswendig gemerkt hat.

Sacks: Nachdem sie nicht zwischen richtigen und falschen Tönen unterscheiden konnte, konnte sie Fehler nur vermeiden, indem sie schaute, dass ihre Hände sich richtig über die Tasten bewegten.

Standard: Sie schreiben, dass Vladimir Nabokov ebenfalls ein weitgehend amusischer Mensch gewesen sein soll.

Sacks: Ja, und nun habe ich erfahren, dass sein Sohn Dimitri Nabokov gesagt hat, dass sein Vater sich tatsächlich keine Melodie merken konnte. Ein solcher Virtuose der Sprachmusik wie Nabokov! Aber Musikalität und Sprachgefühl gehen nicht automatisch Hand in Hand. Es gibt aber natürlich auch den umgekehrten Fall: James Joyce war ein Sprachgenie, und er war äußerst musikalisch. Er hatte eine sehr schöne Singstimme.

Standard: Und wie steht es mit der häufig besungenen Korrelation zwischen musikalischer und mathematischer Begabung?

Sacks: Hier gilt dasselbe. Manchmal gibt es diese Doppelbegabung, manchmal nicht. Ich habe dazu selbst keine Untersuchungen gemacht, aber es gab einen sehr bekannten Physiker am MIT namens Victor Weisskopf, der in den 1960er-Jahren auch Chef des Cern in Genf war. Weisskopf war ein herausragender theoretischer Physiker und zugleich ein sehr guter Amateurmusiker. Eines der Kapitel in seiner Autobiografie heißt "Mozart und die Quantenmechanik". Darin vergleicht er die verschiedenen mentalen Aktivitäten und Gefühle, die er bei seiner Beschäftigung mit Musik und mit Quantenmechanik beobachtet hat, und kommt zum Schluss, dass die Unterschiede am Ende doch größer sind als die Ähnlichkeiten. Das ist natürlich nur ein einzelnes Beispiel, aber ich halte die Berichte solcher doppelbegabten Menschen für sehr wesentlich.

Standard: Sie sind ein Neurologe, der sich sehr viel mit Musik beschäftigt. Wie steht es mit Ihrer musikalischen Begabung und Ausbildung?

Sacks: Sehr bescheiden. Ich bin wahrscheinlich eines der wenig begabten Mitglieder meiner Familie. Als ich ein Kind war, gab es sehr viel Musik in unserem Londoner Haushalt. Mein Vater war äußerst musikalisch, ebenso meine Brüder. Es gab zwei Pianos. Einer meiner Brüder spielte außerdem Flöte, einer Klarinette, einer Geige. Sie hatten einen sehr guten Klavierlehrer, einen ausgewiesenen Bach-Liebhaber. Einige meiner frühesten Kindheitserinnerungen haben mit Bach zu tun. Als ich fünf Jahre alt war, wurde ich gefragt, was mir die liebsten Dinge auf der Welt seien, und ich soll geantwortet haben: Bach und Räucherlachs. Das hat sich eigentlich bis heute nicht verändert ...

Standard: Ihr Vater ging mit Partituren als Abendlektüre ins Bett ...

Sacks: Oh ja, er hatte viele Orchesterpartituren, die er abends vorm Einschlafen las. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was es bedeutet, eine Orchesterpartitur im Detail lesen und im Kopf hören zu können. Meine bescheidenen Möglichkeiten erschöpfen sich im Lesen von Klaviernoten. Ich kann die Klaviermusik im Kopf hören, und wenn ich das Stück gut kenne, fühle ich es auch in meinen Fingern. Meine Mutter andererseits hatte ziemliche Schwierigkeiten, einen Ton richtig zu treffen. Ich habe also schon in meiner Familie ein ziemliches Spektrum von musikalischen Begabungen kennengelernt. Dafür besaß meine Mutter, die Chirurgin war, eine sehr ausgeprägte visuelle Imagination. Ich erinnere mich, dass ich einmal ein Eidechsenskelett aus der Schule mitbrachte. Sie sah es sich an, legte es hin und zeichnete es aus dem Kopf - in zwölf verschiedenen Ansichten, jeweils zu 30 Grad um die eigenen Achse gedreht. Das erschien mir wie Zauberei. Ich besaß weder die musikalische Imaginationsfähigkeit meines Vaters noch die visuelle meiner Mutter.

Standard: Manche Leute würden sagen, dass Sie diese Defizite im Laufe der Jahre sehr erfolgreich kompensiert haben.

Sacks: Ja. Aber unter solchen Menschen aufzuwachsen fühlte sich an, als wäre ich selbst ein ziemlicher Idiot.

Standard: Woher kommt es, dass manche Melodien uns für Tage nicht aus dem Kopf gehen?

Sacks: Solche Melodien sind meistens mit Erfahrungen oder Gefühlen verbunden. Sie haben für uns Bedeutung. Abgesehen davon gibt es aber auch noch Ohrwürmer, die zeigen, dass die Filterfunktion des Hirns manchmal einfach nicht funktioniert. Dann hört man etwas, das man weder hören will noch mag. Das kann mitunter sehr irritierende Ausmaße annehmen. Manchmal handelt es sich auch nicht um ein ganzes Musikstück, sondern nur um 15 oder 20 Sekunden daraus, die sich ständig wiederholen.

Standard: Es gibt auch so etwas wie universelle Ohrwürmer, denen sich sehr viele Menschen nicht entziehen können. Wie funktioniert das?

Sacks: Dazu wird sehr viel geforscht. Der klassische Ohrwurm ist melodisch ziemlich simpel aufgebaut, er ist eher kurz, kann aber einen ungewöhnlichen Rhythmus haben. Was ihn so ansteckend macht, ist häufig die Kombination mit etwas Zweitem - einem Produkt, einem Musical, einem Film. Die Idee des Ohrwurms ist übrigens keine zeitgenössische. Schon im 17. Jahrhundert war von einer "Ohrwegsraupe" die Rede, die für genau dieselbe Idee stand. Also hat es wohl schon immer Ohrwürmer gegeben; in allen Kulturen und zu allen Zeiten.

Standard: Sollten sie nicht mehr geworden sein - durch die Klangkulissen, von denen man heute ständig umgeben ist?

Sacks: Man ist tatsächlich sehr viel mehr Musik ausgesetzt, um die man nicht gebeten hat. Hier in New York zum Beispiel gehe ich in der Früh ins Schwimmbad und werde dort mit Musik beschallt. Ich will keine Musik im Schwimmbad. Gestern beim Abendessen im Restaurant war auch Musik. Überall ist Musik. Und die Hälfte der New Yorker Bevölkerung hängt auf der Straße ständig an Handys, die pausenlos in den verschiedensten Klingeltönen und Melodien läuten.

Standard: Ist das ein neues Phänomen?

Sacks: In Philip Roths neuem Buch Exit Ghost kommt sein Alter Ego nach Jahren zurück nach New York, so ums Jahr 2004 oder 2005, und ist schockiert, dass die Menschen in den Straßen alle telefonieren oder Kopfhörer tragen. In gewisser Weise ist das, als ob alle von Halluzinationen befallen wären. Vor kurzem hätte ich fast einen telefonierenden Mann überfahren. Funktionell betrachtet, war er in diesem Augenblick blind und taub - wie abgeschnitten von seiner Umwelt. Es ist sehr gefährlich, Musik zu hören oder am Handy zu telefonieren, während man eine Straße überquert. Nicht einmal ein Schizophrener ist in dieser Situation so unfallgefährdet.

Standard: Ist das Ihr Ernst?

Sacks: Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, der 1907 den Begriff Schizophrenie geprägt hat, verwendete zur Symptombeschreibung den sehr passenden Ausdruck der "doppelten Buchführung": Das heißt, ein Schizophrener ist sich der Dinge, die um ihn herum passieren, bewusst, während er gleichzeitig die Welt halluziniert. Die Gefahr, die in unseren Hightech-Geräten liegt, ist, dass wir uns, während wir sie verwenden, eben nicht der Dinge um uns bewusst sind.

Standard: In den meisten Ihrer Bücher geht es um Menschen, die aufgrund neurologischer Störungen von der Norm abweichen: Sie verwechseln ihre Frau mit einem Hut. Sie empfinden schrecklichen Wundschmerz in amputierten Gliedmaßen. Sie erinnern sich an nichts, das länger als eine Minute zurückliegt. Das menschliche Sein wirkt mit einem Mal ungeheuer gefährdet und zerbrechlich. Macht Ihnen das nicht selbst manchmal Angst?

Sacks: Doris Lessing sagte über mein Buch Zeit des Erwachens, es lasse einen mit dem Gefühl zurück, auf Messers Schneide zu leben. Ich empfinde das nicht so. Mein erstes Buch war über Migräne. Ich schrieb darin über meine ersten Migräneanfälle als Zwei- oder Dreijähriger. Sie begannen mit einem blendenden Licht. Dann hatte ich das Gefühl, auf einem Auge blind zu werden. Ich wusste nicht, was mit mir passierte. Meine Mutter erklärte mir, dass meine Sinneswahrnehmungen zurückkommen würden, selbst wenn ich zwischendurch blind, taub oder bewegungsunfähig sein sollte. Das hat in mir ein sehr frühes Gefühl für meine eigene Verletzlichkeit entstehen lassen und mir gezeigt, wie sehr wir von unserem Hirn abhängig sind. Aber gleichzeitig hat uns die Evolution auch zu einer sehr widerstandsfähigen Spezies gemacht. Gerade in Zeit des Erwachens war das sehr augenfällig ...

Standard: Darin erzählen Sie von einigen Überlebenden der Schlafkrankheit Encephalitis lethargica, denen Sie 1966 als Arzt im Beth Abraham Hospital in der Bronx begegneten.

Sacks: Es ging um Menschen, die über 30 oder 40 Jahre von praktisch jeder Art von Leben abgeschnitten gewesen waren. Sie saßen bewegungs- und kommunikationsunfähig in Rollstühlen. Dann gab es ein neues Medikament, und sie wachten auf. Und obwohl sich ihre Umwelt verändert hatte, konnten sie sich anpassen. Diese Anpassungsfähigkeit verblüfft mich immer am allermeisten.

Standard: Mehr als die Fehleranfälligkeit des Hirns?

Sacks: Als Neurologe muss ich nicht nur verstehen, was passiert ist, sondern auch herausfinden, wie es - trotz allem - weitergehen kann. Um Ihnen ein persönliches Beispiel zu geben: Ich bin seit kurzem auf dem rechten Auge blind. Mein ganzes Leben habe ich mich sehr für binokulares, plastisches Sehen interessiert und bin Mitglied der New York Stereoscopic Society. Ich bedaure natürlich, am rechten Auge erblindet zu sein, andererseits kann ich das kompensieren, indem sich mir ein neues Forschungsfeld eröffnet. Ich kann Sie zum Beispiel mit meinem rechten Auge nicht sehen. Da ist einfach ein schwarzer Fleck. Aber innerhalb von zwei Sekunden verändert sich dieses Schwarz und wird zur selben Farbe wie die Zimmerdecke. Es ist eine Art Camouflage. Dadurch empfinde ich das, was aus meinem Gesichtsfeld ausgeschnitten ist, nicht mehr ganz so stark. Das Hirn kann zwar kein Gesicht ergänzen, aber es ergänzt automatisch Farbe und Form, wo eigentlich keine ist. Es füllt blinde Flecken aus. Langsam passe ich mich so an den Verlust meiner Fähigkeit zu binokularem Sehen an. Das geschieht langsam: Anfangs habe ich Hände, die ich schütteln wollte, oft verfehlt. Inzwischen passiert das seltener.

Standard: Sie wissen so viel über Hirnfunktionen, dass Sie vielleicht weniger Angst haben als andere Menschen, die einseitig erblinden.

Sacks: Ich hatte sehr wohl Angst und war sehr aufgewühlt, aber irgendwie geht man durch solche Erlebnisse durch.

Standard: Das Fachwissen kann es natürlich auch schlimmer machen.

Sacks: Ärzte sind ja berühmt für ihre Hypochondrie! Wichtig ist, sich den Dingen zu stellen. Aus Angst erzählen viele Menschen das, was sie wirklich beschäftigt, nicht. In meinem Buch beschreibe ich das im Zusammenhang mit musikalischen Halluzinationen. Patienten erwähnen solche Wahrnehmungserlebnisse ganz selten spontan.

Standard: Weil man glauben könnte, sie wären verrückt?

Sacks: Entweder deswegen, oder weil sie Angst haben, dass etwas völlig Unverständliches mit ihnen passiert. Da muss man dann sehr achtsam nachfragen.

Standard: Haben Sie Vorbilder - als Arzt und als Schriftsteller?

Sacks: Der russische Neurologe Alexander R. Lurija und Sigmund Freud sind für mich die zwei heroischen Figuren der Phänomenologie und des Geschichtenerzählens. Sie sind meine Idole. Lurija hat das Schreiben wissenschaftlicher Fallgeschichten immer mit Detektivromanen verglichen.

Standard: In Richard Powers Roman "Das Echo der Erinnerung", der 2006 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, kommt die Figur eines sehr bekannten Neurologen und Buchautors vor, für den Powers Sie zum Vorbild genommen hat. Im Roman werfen die Medien diesem vor, seine Patienten für seine Fallgeschichten zu missbrauchen. Waren Sie selbst auch schon mit diesem Vorwurf konfrontiert?

Sacks: Ja, oft, und ich habe mir diese Vorwürfe auch selbst gemacht. Als ich in das Feld der Medizin eingetreten bin, hatte ich nicht die Absicht, über meine Patienten zu schreiben und Bücher zu veröffentlichen. Aber andererseits besteht ein großer Teil der Medizin aus dem Erzählen von Geschichten und dem Verstehen der Geschichten anderer. Ich hatte bisher vermutlich 20.000 Patienten und habe vielleicht 200 oder 300 Fallgeschichten geschrieben. Ich erkundige mich sehr genau bei den Patienten, über die ich schreiben möchte, ob ihnen das recht ist. Ich schicke ihnen, was ich über sie geschrieben habe, frage sie, ob es aus ihrer Sicht korrekt ist und ob sie mit der Veröffentlichung einverstanden sind. Ich versuche Menschen mit Respekt, Achtsamkeit, Takt und Wertschätzung zu behandeln, was, soweit ich es gehört habe, nicht zu den großen Stärken der Neurologenfigur in Powers Roman gehört.

Standard: Wie reagieren Sie, wenn jemand zu Ihnen sagt: "Dr. Sacks, ich bin ein neurologisch interessanter Fall. Wie wär's mit einer Geschichte über mich?"

Sacks: Ich schätze es nicht, wenn jemand mit dem Wunsch zu mir kommt, dass ich über ihn schreibe. Ich möchte, dass man mir als Arzt begegnet, nicht als Schriftsteller.