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Zurück in die Zukunft führt Gert Jonkes "Freier Fall" (Markus Hering).

Foto: APA/Techt
Der Jubel erfolgte zu Recht.

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Wien - Erich ist ein großes Talent im Bereich der Suizidprävention, und allein diese Behauptung, die Markus Hering in Gert Jonkes Freier Fall am Akademietheater in vollem Glanz verkörpert, straft jede Realität lachend Lügen. Der viel zu spät vom Burgtheater entdeckte Dramatiker ist eben der größte Utopist, den dieses Land hat, und der präziseste Umstürzungstechniker am Theater.

In poetischen Verschiebeprozessen entkoppelt Jonke im Denken verhärtete Zusammenhänge, hebt Vorstellungen aus den Angeln, macht bekannt mit Figuren wie "Heckenrosa" oder "Obersennerin" (Es singen die Steine) oder mit einem entschlossenen "Wüstenförster" (Insektarium). Getrost kann man Gert Jonke als den Top-Fantasy-Dramatiker Österreichs bezeichnen.

In Freier Fall, von Christiane Pohle am Samstagabend zur heftig akklamierten Uraufführung gebracht, sind Zeit und Figuren wie immer schon bei Jonke in Auflösung begriffen. Pohle, zum dritten Mal mit einer Jonke-Uraufführung betraut, ist die parodistische Dienerin dieses in die Zukunft verlegten, Zeiten umspannenden und von anderen Figuren (Johannes Krisch, Adina Vetter, Sven Dolinski, Gerrit Jansen) nur jeweils kurz unterbrochenen Redeflusses des ewigen Wiedergängers Erich (Hering). Wenn das Theater futuristisch wird, kann es unfreiwillig heiter werden; Pohle kommt dem zuvor und entwirft die rückwärtsgewandteste Zukunft, die sich denken lässt: die Kostüme - Modeirrtümer aus den vergangenen Jahrzehnten, die angewandte Sciencefiction - wie aus Schüleraufsätzen.

Nach oben, unten offen

Die Lebensläufe des die mannigfachen Selbstmorde überdauert habenden Helden sind auf Handys gespeichert, die in Hundertschaften, in Plastiksäcken blinkend, an den echten Theater- wie angebauten Mauern (Bühne: Maria-Alice Bahra) hängen. Dieser Ort ist, wie auch die Zeit, nach allen Seiten, nach oben und unten, offen. Vom Karbon (vor 360 Mio. Jahre) über die Jungsteinzeit bis in die nämliche Zukunft tragen die Erzählungen dieses Erich (Er/Ich). Ein gewitzter Orlando, der hier mit kastanienbraunem Flatterhaar hurtig Vorkehrungen für die anstehende Eröffnung (=Verbrennung) seiner Installation trifft. Er ist Künstler und Heilpraktiker in Personalunion.

Seine eigenen Suizide haben ihm über die Jahre notwendigerweise so manches neue Leben eingebrockt, auf das er in seiner gutmeinenden Erzählung nun zurückblickt. Mit einer weit ausgefahrenen Teleskopstange fischt er dafür jeweilige Mobiltelefone von der Mauer, und "spult" das am groß projizierten Display zu sehende vergangene Leben ab. "Blitz triff mich!" fleht er darauf einmal sterbenswillig in einer alpenländischen Gewitterlandschaft in Mautern; ein andermal lässt er sich während eines hochsommerlichen Wintereinbruchs zur Zeit der Gotik erfrieren.

Schon im Roman Der ferne Klang (1979/2002) war es ein Mann, den der missglückte Selbstmord in ein Leben voller Überraschungen zurückgeworfen hat. Erich in Freier Fall ist dessen Abkömmling; und auch er ist Protagonist einer von Jonkes Liebes-Utopien, die als Begegnung von Erich mit Siedu (Sie/Du; Libgart Schwarz) hier aber im Pathos versank.

Der Abend ist eine einzige Kette von nicht zur Gänze aufzuzählenden Parodien: auf den Selbstmord, auf das Landleben, auf die Kunst (also Selbstparodie), auch auf das Theater (das in einer Rahmenhandlung mit Branko Samarovski die Spielstätte mit dem Friedhof tauscht).

Vergnügen unter besonderer Berücksichtigung von Weltauflösung: darauf verstehen sich Jonke und Pohle. Wenn man danach auch hoffte, dies irgendwann einmal ganz anders inszeniert zu sehen. (Margarete Affenzeller / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26.5.2008)