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"Jede Vertragsreform hat Veränderungen gebracht und so positive aber auch negative Reaktionen in den Mitgliedstaaten hervorgerufen". Christine Stix-Hackl, als Generalanwältin einst auf einem der Top-Posten der EU, zeigt Verständnis für die Kritiker des EU-Reformvertrages, sieht den Vertrag aber dennoch als notwendigen Schritt an. Wie sie sich die starke Emotionalität der Debatte erklärt, warum die Medien nicht unschuldig daran sind und wieso EU-Skepsis kein spezifisch österreichisches Phänomen ist, darüber sprach Stix-Hackl im derStandard.at- Interview . Die Fragen stellte Anita Zielina.

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derStandard.at: Sie haben eine lange EU-Karriere hinter sich, und damit auch eine starke Veränderung der EU miterlebt – wie würden Sie die zusammenfassen?

Stix-Hackl: Die eigentliche Veränderung war für Österreich natürlich der Beitritt, seitdem hat sich die Union aber weiterentwickelt. Bestrebungen, über eine rein wirtschaftliche Zusammenarbeit hinaus auch politische Perspektiven zu eröffnen, sind in der Entwicklung der EU kein neues Phänomen.

derStandard.at: Ist der Vertrag von Lissabon tatsächlich der große Einschnitt, als den ihn vor allem Gegner sehen?

Stix-Hackl: Zwischen Verfassung und Vertrag von Lissabon gibt es keine radikalen Veränderungen. Die institutionellen Änderungen im Vertrag von Lissabon sind allerdings größer als in den vorhergehenden Verträgen. Gegenüber dem bisherigen Rahmen des innergemeinschaftlichen Entscheidungsprozesses ist dies ein maßgeblicher Schritt; notwendig, weil das institutionelle Zusammenwirken der EU mit der angewachsenen Mitgliederzahl eine neue Basis erforderlich gemacht hat. Es wurde ja lange kritisiert, dass man mit den Strukturen von Nizza nicht besonders gut arbeiten kann.

derStandard.at: Die Rufe nach einer Volksabstimmung beziehungsweise die Kritik am Vertrag von Lissabon sind diesmal besonders laut – oder trügt dieser Schein?

Stix-Hackl: Parallel zum Anwachsen ihrer Mitgliederzahl ist die Verflechtung in der Gemeinschaft enger und regelungsintensiver geworden. Das ist also nichts grundsätzlich Neues. Jede Vertragsreform hat Veränderungen gebracht und so positive aber auch negative Reaktionen in den Mitgliedstaaten hervorgerufen. Die Union muss sich weiterentwickeln, um ihren Stellenwert in der Welt zu behalten.

Ich kann mir jedoch vorstellen, dass die relativ rasche Aufeinanderfolge des Verfassungsvertrags und des Vertrags von Lissabon ein gewisses Unwohlsein provoziert hat, auch wenn dies in rechtlicher Kontinuität steht.

Diskussion und inhaltliche Auseinandersetzung sind notwendig, um Texte, die von Juristen verfasst wurden, für Nicht-Juristen verständlich zu machen. Die Tatsache, dass der Lissabonner Vertrag ein sogenannter Änderungsvertrag ist, sich also in ergänzenden oder ändernden Verweisen auf die bisherigen Verträge erschöpft, macht ihn natürlich nicht gerade lesbarer. Einen rechtlich verbindlichen Gesamttext kann es allerdings erst geben, nachdem alle Mitgliedstaaten den Vertrag von Lissabon ratifiziert haben.

derStandard.at: Ist der Vertrag von Lissabon inhaltlich ein großer Schritt?

Stix-Hackl: In gewissen Bereichen sicherlich, zB bei der Verbesserung der außenpolitischen Werkzeuge, durch die Aufwertung der Zusammenarbeit im Justiz- und Polizeibereich, durch die Stärkung der Rolle und Mitwirkung des Europäischen Parlaments, durch die dem Vertrag verbundene Grundrechte-Charta. Dass die EU jetzt auch ausdrücklich über einen Grundrechtskatalog verfügt, ist ein klarer Fortschritt.

derStandard.at: Wie erklären Sie sich die starke Emotionalität der Debatte?

Stix-Hackl: Da treffen wohl mehrere Faktoren zusammen. Vorteile und Möglichkeiten, die ein vereintes Europa bietet, werden inzwischen gerne als beinahe selbstverständlich genommen; wenn es um Hürden geht, wird das als unberechtigt empfunden. Weiters verliert der historische Kontext, in dem die Gründerväter nach dem 2. Weltkrieg dachten und der der Europäischen Union zugrundeliegt, im allgemeinen Bewusstsein kontinuierlich an Bedeutung.

Außerdem ist immer noch für nationale Politiker - und das beschränkt sich keineswegs auf Österreich - die Verlockung groß nach Brüssel zu verweisen, wenn es um negative Effekte geht und Erfolge auf das nationale Konto zu verbuchen.

Dazu kommt auch die Rolle der Medien: Emotional negativ besetzte Themen lassen sich offenkundig besser transportieren als positive, das erzeugt eine zusätzliche eigene Dynamik.

derStandard.at: Ist die EU-Skepsis ein österreichisches Phänomen? Wenn man dem Eurobarometer glauben kann, sind wir besonders EU-kritisch.

Stix-Hackl: Nein, ein gewisses Maß an Skepsis ist in unterschiedlichen Ausprägungen in wohl beinahe allen Mitgliedsstaaten latent vorhanden. In einigen gibt es allerdings eine tiefergehende sachliche Auseinandersetzung mit europäischen Themen. Diese sachliche Debatte könnten wir vielleicht noch verbessern.

derStandard.at: Dem EuGH wurde in letzter Zeit immer wieder eine arbeitnehmerfeindliche Rechtsprechung vorgeworfen – zu Recht?

Stix-Hackl: Zunächst gibt es in der langen Rechtssprechung des Gerichtshofes eine Menge von Urteilen, die zu Diskussionen Anlass gegeben haben – mit jeder Ausrichtung. Und außerdem sucht sich der Gerichtshof seine Rechtssachen nicht aus - wenn man ihn fragt, muss er antworten. Dabei kann er nur nach dem jeweiligen Stand des Gemeinschaftsrechts vorgehen. Die Grundrechte-Charta mit ihren sozialen Rechten dürfte sicherlich auch die Rechtssprechung beeinflussen.

derStandard.at: Wie tief ist die Krise, in die eine Ablehnung des Vertrags von Lissabon durch Irland die EU stürzen würde?

Stix-Hackl: Eine Prognose darüber kann ich Ihnen nicht geben. Wenn der Vertrag von Lissabon nicht in Kraft treten würde, bliebe jener Rechtsrahmen bestehen, dessen Verbesserung das Ziel des Reformvertrags war.

derStandard.at: Und was bedeutet das?

Stix-Hackl: Es dürfte die Entscheidungsfindung nicht gerade vereinfachen, soviel ist sicher. (Anita Zielina, derStandard.at, 8.6. 2008)