Nick Cave treibt live im Wiener Gasometer ein etwas gar zu selbstgefälliger Altherren-Rock um. Die gute Laune lässt er sich davon nicht verderben.

Foto: Newald
Früher war alles damals! Und heute geht es gleich nach der Arbeit ins Bett.
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Wien – Wie einst schon der gute alte deutsche Frühromantiker Novalis Ende des 18. Jahrhunderts richtig bemerkte, muss in der Kunst "durch den regelmäßigen Flor der Ordnung" das Chaos schimmern, um dem harten Boden des Musenhains ein allgemein verträgliches Meisterwerk abringen zu können. Perfektion ist dem Menschen unerträglich. Auch Goethe meinte bekanntlich bei seinem letzten Atemzug programmatisch: "Mehr Dreck!"

Dass man zusätzlich zum gelegentlich verpflichtend unsauberen Reimen und zu Hoppalas beim Umgreifen auf Federkiel und Klampfe bei der musischen Tätigkeit auch ganz generell den Ball flach halten und nicht zu viel gaberln sollte, müsste schließlich mit der Reife des Alters ohnehin selbstverständlich sein. Entgegen einer beim jungen Mann nicht kaputtzukriegenden Ansicht, lassen sich Frauen von testosteronbedingten Übersprungshandlungen wie zum Beispiel virtuosen Gitarrensoli ohnehin nicht beeindrucken und nach Hause mitnehmen. Die lassen immer nur andere Buben bewundernd staunen. Das Motto des heutigen Abends lautet also: Das Kind im Manne will spielen, nicht sein Zimmer zusammenräumen!

Textschwächen

Abseits der eigenen, heute reichlich zur Schau gestellten Textschwächen und Aufsässigkeit gegenüber alten Liedern wie einem bewusst selbstironisch kaputt gespielten Into My Arms oder einem ungewollt in der Dissonanz versenkten Ship Song heißt die Unordnung beim australischen Spätrocker Nick Cave und seiner Begleitband The Bad Seeds seit dem Abgang der Dramaqueen Blixa Bargeld an der Abrissbirnengitarre heute Warren Ellis.

Der steht, taumelt und torkelt als fusselbärtiger Kontrollverlust mit diversen, etwas kindisch wirkenden Miniaturstromgitarren für frühbegabte Vorschulkinder und einer im Rock traditionell unbehausten Violine am Bühnenrand herum und müllt so gut wie jedes heute konsequent falsch angestimmte Lied mit gehässigen Lärmschlieren zu. Zu viel des Schlechten.

Der regelmäßige Flor der Ordnung wird von Cave ohnehin meistens dazu verwendet, traditionellen Motiven aus dem unerschöpflichen Selbstbemitleidungsreservoir der populären Musik wie Blues, Country und Leonard Cohen gebrochen durch Iggy Pop das vegetative System mittels Strangulation abzudrehen. So können sich die mit Herzblut befeuerten destruktiven Kräfte und Rachegedanken frei entfalten. Danach kann man ruhigen Gewissens und mit sausenden Ohren versuchen, am nächsten Tag wieder einmal ein besserer Mensch zu werden.

Das Konzert von Nick Cave im Wiener Gasometer wartete neben Cave an der ambitioniert Richtung des Gitarrenlehrbuchs The Art Of Blues gestrampften Fender Telecaster noch mit einer weiteren Überraschung auf. Seit der 50er überschritten wurde und die Haare wie die Hemmungen weniger werden, hat der alte Sapperlot auf seinem aktuellen Album Dig, Lazarus, Dig!!! teilweise beängstigend feisten Altherrenrock für sich entdeckt.

Chicago Blues

Der wird live zünftig rumpelnd und mehr bieder als chaotisch in den Saal gepumpt. Auch das früher verzeichnete, in den roten Bereich kippende Energielevel ist trotz eines mit den Armen und Beinen das Gegenteil fuchteln wollenden Frontmannes spürbar geringer geworden. Oder ist es die sarkastische Tageslaune des Chefs, wenn alte apokalyptische Kracher wie Tupelo und The Mercy Seat Richtung lebensmüden Chicago Blues von einer Rentnerkapelle gedeutet werden – inklusive grimmiger Boogieriffs, für die sich selbst abgetakelte Bühnenstammgäste des Wiener Plaent Music zu schade wären.

Das alte, seit Ewigkeiten live gespielte Material seiner Glanzzeit, etwa Red Right Hand, I Let Love In, Papa Won’t Leave You, Henry oder Deanna scheint mittlerweile von Cave derart in der eigenen Werkdeutung kanonisiert worden zu sein, dass eines passiert: Jede Behauptung, sich hier noch immer Herzblut herauszupressen, verpufft angesichts der lustlos klingenden Ergebnisse. Der Glückseligkeitstaumel des Publikums hält sich selbst bei 50 Euro Euphorisierungshilfe über den Eintrittspreis in Grenzen.

Einzig die neueren Lieder scheinen Cave noch zu interessieren und live zu inspirieren. Da gerät selbst ein zäher Achtminüter wie More News From Nowhere zum Triumph. Aber lass uns Freunde bleiben. (Christian Schachinger, DER STANDARD/Printausgabe, 27.05.2008)