Die jungen Gewalttäter im französischen Musikvideo „Stress“.

Foto: Screenshots Video "Justice stress"

Am Ende des Videos zünden die Jugendlichen ein Auto an.

Foto: Screenshots Video "Justice stress"

Das Versprechen von Nicolas Sarkozy, die Lage in den Vorstädten mit einem „Marshallplan“ zu entschärfen, wurde nicht gehalten.

Der Musikclip „Stress“ ist ein Phänomen: Auch wenn – oder gerade weil – die Fernsehsender die siebenminütige Gewaltorgie konsequent aus ihren Musikprogrammen verbannen, wurde das Video der bekannten französischen Elektroband Justice auf Internetseiten wie YouTube schon weit mehr als eine Million Mal angeschaut.

In dem rasanten Clip macht sich eine Handvoll teils blutjunger Banlieue-Kids nach Paris auf, um auf dem touristischen Montmartre-Hügel Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie schlagen ziellos drauflos, attackieren eine junge Frau, entreißen einer älteren die Handtasche, beklauen Touristen, zerstören das Interieur eines Bistros und zünden abschließend ein gestohlenes Auto an und verprügeln den vermeintlichen Kameramann.

In Szene gesetzt wurde das Skandalvideo von Regisseur Romain Gavras, dem Sohn des bekannten Regisseurs Constantin Costa-Gavras. Der HipHop-Szene nahestehend, bemühte sich der junge Filmemacher mit dem Einsatz von Wackelbildern um einen hohen Realitätsgehalt. So gehe es nun einmal an jedem Wochenende in der Banlieue zu und her, rechtfertigt er die rohe Gewalt.

Sein Video entlarvt indirekt auch die Wahlkampfversprechen von Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der einen eigentlichen „Marshallplan“ für die Vorstädte in Aussicht gestellt hatte. Im Jänner legte seine Stadtministerin Fadela Amara aber nur einen dünnen Maßnahmenkatalog vor, dessen Effekt bereits verpufft ist – wie bei allen zwölf Banlieue-Gesetzen der vergangenen zwanzig Jahre. Die Lage um Paris, Marseille oder Lyon bleibt so explosiv wie zuvor. In einem Interview mit dem Radiosender RTL sprach Sarkozy am Dienstag dann auch über alles mögliche, den hohen Ölpreis ebenso wie über die finanziellen Probleme der französischen Medien, die Pensionen und die 35-Stunden-Woche. Zu den Banlieus verlor der Präsident aber kein Wort. Die Zeitschrift Politis zog dann auch lapidar Bilanz: „Seit den Banlieue-Krawallen von 2005 hat sich dort nichts verbessert.“

Andere Pariser Medien haben weniger Verständnis für das Video. Libération fragte, ob es sich vielleicht um „unfreiwillige Werbung für den rechtsextremen Front National von Jean-Marie Le Pen handle. Le Nouvel Observateur unterstellte der Elektroband Justice – gebildet aus Gaspard Augé (28) und Xavier de Rosnay (25) – billige Effekthascherei „auf dem Rücken der Banlieue-Jugendlichen“.

Gavras Video ist allerdings komplexer, als es den Anschein macht. Die „casseurs“ (Schläger) suchen ironischerweise das Pariser Traditionsviertel Montmartre heim, das bekanntlich als Kulisse für den französischen Nostalgiefilm Amélie Poulain diente. Dies macht den Bruch deutlich, der mitten durch die französische Gesellschaft geht – und Paris klar in die reiche Innenstadt und die Immigranten-Ghettos außerhalb des Autobahnrings teilt.

Jugendliche attackiert

Diverse Medien und Politiker werfen dem Video aber gerade dies vor: Indem er das Eindringen einer Banlieue-Bande nach Montmartre zeige, werfe er letztlich die Millionen maghrebinischer und schwarzafrikanischer Einwanderer in Frankreich in einen Topf.

„Brennende Autos und Gewaltbilder zementieren nur die Klischees“, meint auch Ali Somaré von einem Bürgerverein aus Villiers-le-Bel, wo es Ende 2007 erneut zu Krawallen gekommen war. „Dabei sind es die Einwohner der Banlieues selbst, die hauptsächlichen Opfer der Drogenbanden und Randalierer.“ Diese Alltagsgewalt, die dem Justice-Video gar nicht so unähnlich ist, wird von den Pariser Medien häufig verdrängt. In Carrières-sur-Seine westlich von Paris schlug eine dreißigköpfige Meute drei Jugendlichen die Köpfe mit Schlagstöcken blutig und griff dann eine Polizeipatrouille an; Letztere konnte nach dem Abschuss von Tränengaspatronen flüchten.

In Chevilly-Larue zogen acht Jugendliche, darunter fünf Minderjährige, brandschatzend durch ein Nachbarquartier und zerstörten Dutzende von Autos. Sie waren offenbar wütend, dass ihnen kaum ein Mensch über den Weg lief. Ein einziger Banlieue-Bewohner war nicht schnell genug. Er wurde mit Eisenstangen spitalsreif geknüppelt. All das fand aber nicht im Videoclip von „Stress“ statt, sondern passierte tatsächlich. Im Mai, nur weniger Kilometer außerhalb von Paris. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, Printausgabe, 28.5.2008)