Was mittels herkömmlicher genetischer Methoden bisher als unmöglich galt, gelang zwei Wissenschaftern in jahrelanger Kleinstarbeit: Atome werden derart manipuliert, dass maßgeschneiderte Ribosomen entstehen und die Bildung von Peptiden im Labor nachgeahmt werden kann.

Foto: Polacek
Gemeinsam entschlüsseln sie einen der wichtigsten Vorgänge des Lebens: die Verknüpfung von Aminosäuren zu Proteinen.

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Das Ribosom, die Proteinfabrik der Zelle, ist eine komplexe Maschinerie, die über Milliarden von Jahren optimiert wurde. Dieses biochemische Wunderwerk der Natur im Labor nachzubilden und dabei einzelne Atome nach Belieben zu verändern, war bisher völlig undenkbar: Weder die Mittel der Genetik noch die Möglichkeiten der chemischen Synthese reichten dazu aus.

Tun sich allerdings Experten aus beiden Gebieten zusammen, wird das Unmögliche machbar - so geschehen in Innsbruck. Ronald Micura, Professor für Organische Chemie, und Norbert Polacek, Molekularbiologe an der Medizin-Universität, haben ein geniales System entwickelt, um maßgeschneiderte Ribosomen herzustellen. So haben sie eine der fundamentalsten biochemischen Reaktionsmechanismen aufgeklärt, die in allen Zellen des Planeten auf die gleiche Weise abläuft: das Aneinanderkoppeln von Aminosäuren zu Peptiden.

Micura ist Spezialist für die Herstellung jener Biomoleküle, die bei dieser Reaktion die Hauptrolle spielen: die Ribonukleinsäuren (RNA). In den letzten Jahren sind RNAs in das Zentrum des biologisch-medizinischen Interesses gerückt, weil sie viele noch weitgehend unerforschte Aufgaben im Leben der Zelle wahrnehmen. Für seine Experimente stellen Micura und sein Team atomgenau manipulierte RNAs im Labor her. Dies ist eine hohe Kunst, denn die Moleküle zerfallen leicht. Trotzdem gelingt es ihnen, künstliche RNAs bis zur Länge von 100 oder mehr Bausteinen zusammenzufügen, womit sie weltweit führend sind.

Manche Ziele sind aber selbst für Micuras Synthesekunst außer Reichweite: zum Beispiel jene fast 3000 Bausteine lange RNA des Ribosoms, die für die Peptidbindung verantwortlich ist. Umso reizvoller war es daher für ihn, als eines Tages der Molekularbiologe Polacek mit einem äußerst raffinierten Vorschlag auf ihn zukam, der genau dies zu ermöglichen versprach.

Die beiden Wissenschafter bildeten ein Team - keine Selbstverständlichkeit, arbeiten sie doch an verschiedenen Universitäten. Seit der Ausgliederung der Medizinfakultät vor sechs Jahren sind die molekularen Lebenswissenschaften aufgeteilt, was für die Forscher zusätzliche Hürden schafft. "Die Zusammenarbeit wird eindeutig erschwert", stellt Polacek fest.

Während sich Micura auf die "nackten" Moleküle konzentriert, ist Polacek am gesamten katalytischen Zentrum des Ribosoms interessiert. Sein Spezialgebiet ist jene rund 3000 Bausteine lange RNA, die dort die Peptidbindung zustande bringt. Wie sie dies tut, war mit dem herkömmlichen Repertoire an genetischen Methoden nicht herauszubekommen, weil dadurch lediglich die vier natürlichen Basenbausteine gegeneinander ausgetauscht werden. Diese bestehen aus dutzenden von Atomen, von denen viele identisch sind.

Polacek entwickelte ein Verfahren, mit dem er "wie bei einem molekularen dreidimensionalen Puzzle" eine Stelle der RNA herausschneiden und ein Ersatzteil in die Lücke einfügen konnte. Über minimale, punktgenaue Veränderungen am "Puzzlestück" wäre es möglich, den Mechanismus der Peptidbindung aufzuklären, so Polaceks Idee. Um sie in die Tat umzusetzen brauchte er einen Chemiker, der maßgeschneiderte RNA-Stücke herstellen konnte - Micura.

Die beiden tauschten in jahrelanger Arbeit einzelne Atome am Ribosom aus und fanden schließlich heraus, welche Stelle entscheidend ist. Es handelt sich um ein Sauerstoff- und ein Wasserstoffatom, eine sogenannte OH-Gruppe, an einem Zuckermolekül. Sie sorgt dafür, dass die Aminosäuren im katalytischen Zentrum des Ribosoms in der richtigen Stellung zueinander stehen, um verknüpft zu werden.

Das Innsbrucker Team liegt im Trend, denn Biologie und Chemie bewegen sich immer mehr aufeinander zu. Der Blick der Biologie geht dank moderner Analysetechniken ins Detail, bis in den Bereich einzelner Atome und Moleküle, der Domäne der Chemie. Umgekehrt gelingt es organischen Chemikern, immer längere und komplexere Biomoleküle künstlich herzustellen, die ihren natürlichen Vorbildern schon sehr nahe kommen.

Daraus entwickelt sich eine neue Fachrichtung: die synthetische Biologie. Sie baut artifizielle Biosysteme, mittels derer man die Natur entschlüsseln kann, oder die völlig neuartige Fähigkeiten aufweisen. Für Wissenschafter wie Polacek und Micura ergibt sich eine Spielwiese an Möglichkeiten - wenn man sie lässt. (Carola Hanisch/DER STANDARD, Printausgabe, 28.5.2008)