Während die vom Schützen in den Ball gelegte Kraft sonst im weiten Stadionrund verpufft oder im Erfolgsfall vom Netz leise absorbiert wird, macht der Stangentreffer die Urgewalt des Schusses in seiner ganzen archaischen Schönheit akustisch deutlich. Er signalisiert dem Hintermann und seiner Mannschaft: Ihr ward schon so gut wie geschlagen! Niemand hätte das Tor verhindern können, wäre der Ball nicht durch einen gottgewollten Zufall ans Aluminium geprallt. Das je nach Einschlagskraft leichte bis mittelschwere Schwanken im Torgebälk gemahnt an das Verhängnisvolle, das für den Moment gerade noch abgewendet werden konnte.

Die angekündigte Revolution

Dem Stangentreffer ist die Erlösung immanent, aber er verweigert sie in letzter Konsequenz. Er kündigt vom Wandel, ohne ihn zu vollziehen. Er ist Zeichen der Überlegenheit einer Mannschaft, Zeichen der Gefährlichkeit des scheinbar Unterlegenen oder Zeichen für den noch immer vorhandenen Willen einer Seite, eine Entscheidung herbeizuführen, ohne jedoch die Herrschaftsverhältnisse letztlich zu ändern. Ein unübertreffliches Schauspiel. Sollen doch die Massen nach dem Zählbaren gieren, die Fernsehredakteure hochdramatische Spielverläufe auf zwei Tore reduzieren! Der Stadionbesucher weiß die mitunter gesundheitsgefährdende Reaktion auf Stangentreffer zu schätzen, lassen sich diese doch geradezu körperlich spüren. Im Gegensatz zum Tor hebt der Stangenschuss die Anspannung nach einer kurzen vermeintlichen Befreiung (»Aaauuuh«) auf ein neues Niveau. Das Spiel geht weiter! Diese Inkonsequenz, die aufgestaute Erwartungshaltung bei Fans und Akteuren gerade nicht zu lösen, ihnen keine Atempause zu gewähren, macht die Faszination des Stangenschusses aus und adelt ihn zum wahren Genuss für den Fußballconnaisseur.

Die Ästhetik des Präzisen

Dabei ist die mathematische Eindeutigkeit eines Pfosten- bzw. Lattentreffers betörend. Die Exaktheit, mit der ein Schuss die nach offiziellem Regulativ maximal 12 cm breiten Stangen trifft, ist einem schnöden Kreuzeck-Tor, bei dem sich nicht gesichert sagen lässt, wo es anfängt und aufhört, bei weitem überlegen. Diese Definiertheit steht in markantem Kontrast zur Unberechenbarkeit, mit der ein Ball von Pfosten oder Latte zurückprallt. Der Rückpraller, abhängig von einer erheblichen Anzahl an Parametern (Winkel, Geschwindigkeit, Balldrall etc.), die sich einer bewältigbaren Berechnung im Rahmen des Spielgeschehens entziehen, ist das chaotische Regulativ, das dem Stangentreffer die streberhafte Akkuratesse nimmt und ihn von banalen Ein- und Ausfallswinkeln, die beim Hallenfußball der Bande abgetrotzt werden, unterscheidet.

Der Rückpraller als enger Verwandter des Stangentreffers ermöglicht durch seine launenhafte Unwägbarkeit überraschende Wendungen. Im sonst undurchdringlichsten Verteidigungsriegel können durch einen Rückpraller plötzlich große Lücken klaffen. Gleichzeitig sorgt er für geschichtsträchtige Momente. Was wäre etwa der Fußballsport ohne umstrittene Lattenpendler? Man denke nur an den 30. Juli 1966, als Geoff Hurst in Wembley unter Mitwirkung der Querlatte und des bedauernswerten sowjetischen Linienrichters England den WM-Titel schenkte. Diese Faszination hat auch der Weltkonzern Nike erkannt und im Rahmen seiner Joga-Bonito-Kampagne den Weltfußballer Ronaldinho unter tatkräftiger Unterstützung moderner Video-Schnitttechnik den Ball viermal hintereinander von der Strafraumgrenze an die Querlatte donnern lassen.

Kein anderes Ereignis, weder die Anzahl an Ecken noch etwas so Profanes wie der Ballbesitz, mag die Gerechtigkeit eines Spielergebnisses so ausdrücklich zu untermauern oder in Frage zu stellen wie der Stangentreffer. Das Sieges­tor ist erst in der Nachspielzeit gefallen? Ja, aber angesichts der drei Stangentreffer in der ersten Halbzeit gerecht! Und wer mag sich die Redlichkeit einer Niederlage eingestehen, wenn die eigene Mannschaft mehrfach nur die Stange getroffen hat? So ist der Stangentreffer gleichzeitig dienstwillige Diskussionsgrundlage, mit Hilfe derer sich faktische Ergebnisse dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden anpassen lassen.

Die geometrische Evolution

Waren Torpfosten früher viereckig und aus Holz, greift man seit den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wegen der geringeren Verletzungsgefahr auf ovale Aluminium- oder Kunststoffpfosten zurück. Während dieser Wandel den möglichen Einschusswinkel für den Schützen in Richtung der kurzen Ecke verschoben hat, steht die nächste Neuerung schon ante portas - zumindest wenn es nach dem Deutschen Helmuth Löhr, Chef der Firma »Sportgeräte 2000« aus Hildesheim, geht. Er will Pfosten und Latten zur Tormitte hin abschrägen – das steht nicht im Widerspruch zum offiziellen Regulativ, denn der vorgeschriebene Abstand zwischen den Innenkanten der Pfosten sowie zwischen Unterkante der Querlatte und Boden bliebe gleich –, damit von den durchschnittlich ein bis drei Stangentreffern pro Spiel in Zukunft mehr im Netz landen. Es darf bezweifelt werden, dass Herr Löhr unsere Leidenschaft für den Stangentreffer teilt, und man kann nur hoffen, dass er damit dem Spiel keinen Bärendienst erweist. Äußerst angenehm tun sich Torpfosten zudem mit einer, in Zeiten des hochkommerzialisierten Fußballs bemerkenswerten, Eigenschaft hervor: Sie dürfen nach einer Entscheidung des International Football Association Board nicht mit Werbung versehen werden. So strahlen sie neben den mit bunter Bedarfsweckung zugepflasterten Trikots, Banden und Trainerbänken, die den Stadionbesuch mitunter zu einem Spaßerlebnis degradieren, wie eh und je eine wohltuende, ja bezaubernde weiße Unschuld aus. (Text: Christoph Schmiedhofer, Illustration: Alois Gstöttner)