Manche Leute behaupten, China habe seit der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung einen Aufschwung erlebt: Wirtschaftswachstum, steigender Lebensstandard, weniger Einmischung des Staates in das Alltagsleben der Bürger. Diese Kommentatoren übersehen allerdings die Tatsache, daß die Herausforderungen der aktuellen Entwicklung in direktem Zusammenhang stehen mit einer Politik, die weder Verantwortung noch Transparenz kennt.

Nach wie vor nämlich vertritt die chinesische Regierung die Meinung, daß die Tiananmen-Bewegung für Demokratie die poltische Stabilität und den nationalen Zusammenhalt des Landes gefährde. "Stabilität geht über alles", lautet das Schlagwort im Jargon der offiziellen Politik. Doch Stabilität, die auf Unterdrückung aufbaut, ist wie ein Haus auf einem schlafenden Vulkan.

Die Kommunistische Partei Chinas beschränkt sich auf marxistische Rhetorik ohne alternative Visionen. Die Zukunft des Landes sieht sie im Wirtschaftswachstum, um ihre repressive Interpretation von "Stabilität" zu rechtfertigen. Aber spätestens der nächste Konjunktureinbruch wird diesen erzwungenen Gesellschaftsvertrag in Frage stellen.

Vor diesem Hintergrund ist es auch nur logisch, wenn die Regierung den zunehmenden Demonstrationen Arbeitsloser in den Städten und auf dem Land ebenso hilflos gegenübersteht wie der Unzufriedenheit religiöser Gruppierungen. Das Aufheizen des fremdenfeindlichen Nationalismus nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad ist symptomatisch für eine tiefgreifende Unsicherheit, die auch in der Unterdrückung kritischer Stimmen zum Ausdruck kommt.

Wer sich an die Kraft der politischen Bewegung von 1989 erinnert, versteht, warum es so wichtig ist, diesen Geist des Aufbruchs wachzuhalten, geht es doch darum, einen friedlichen Übergang Chinas in die Demokratie zu sichern. Deshalb glauben wir, daß es von entscheidender Bedeutung ist, das offizielle Verdikt gegen die Protestbewegung aufzuheben. Die Regierung muß eingestehen, daß das Massaker von 1989 ein Verbrechen gegen das chinesische Volk war - als ein erster Schritt in Richtung Gerechtigkeit, nationale Versöhnung und echte Stabilität.

Konkret heißt das erstens: Die Regierung muß öffentlich erklären, daß die Demonstrationen von 1989 keine konterrevolutionäre Rebellion waren. Zweitens müssen die zahllosen politischen Häftlinge, deren einziges Verbrechen darin bestand, sich an der Demokratiebewegung zu beteiligen, aus den Arbeitslagern freigelassen werden.

Drittens muß sich die Regierung bei den Überlebenden des Massakers und den Familien der Todesopfer entschuldigen und Schadenersatz leisten. Viertens muß sie den Menschen, die, wie ich, seit Jahren im politischen Exil leben, das Recht auf Rückkehr gewähren. Und schließlich muß ein unabhängiger Strafgerichtshof das Massaker vom 4. Juni untersuchen. Die Verantwortlichen, unter ihnen der ehemalige Ministerpräsident Li Peng, dürfen nicht straffrei ausgehen.

Überfällige Reformen

Das ist eine schwierige Aufgabe, die Mut und politische Weitsicht erfordert, um - über die Interessen von politischen Cliquen hinausgehend - die Basis für Chinas Zukunft aufzubauen. Nur wenn die Regierung ihren Schuldspruch widerruft, kann eine neue Führung beginnen, die öffentliche Moral wiederherzustellen, die vor zehn Jahren ermordet wurde.

Das ist der einzig gangbare Weg zu einer überfälligen politischen Reform, wenn China als große Nation und verantwortungsbewußtes Mitglied der internationalen Gemeinschaft das 21. Jahrhundert beginnen will.

Tiananmen und seine Ideale gehören allen Menschen. Die Aufhebung des Urteils vom 4. Juli 1989 wird nicht nur ein Meilenstein auf dem Weg zu Demokratie, zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in China sein, sondern ein Sieg für den Frieden und die Gerechtigkeit auf dieser Welt.

Xiao Qiang ist Direktor der Menschenrechtsorganisation Chinas mit Sitz in New York (City) und Hongkong.

© Project Syndicate, Prag 1999