Es war irgendwann in den späten 90er-Jahren, als ich anlässlich einer TV-Diskussion in Krakau die deutsche Politologin Gesine Schwan kennengelernt habe. Vor dem abendlichen runden Tisch verbrachten wir fast einen halben Tag mit der Besichtigung des einstigen jüdischen Viertels und vor allem mit Gesprächen über die Geschichte und Gegenwart Mitteleuropas. Die sozialdemokratische Universitätsprofessorin promovierte über den 1968 durch die Kommunisten vertriebenen Philosophen Leszek Kolakowski. Sie beschäftigte sich lebenslang mit den Problemen der Sozialdemokratie, aber auch mit der Verdrängung in der deutschen Geschichte.

Ich war beeindruckt von ihrer Eloquenz und Weltoffenheit ebenso wie von ihrem unbekümmerten Umgang mit heiklen Fragen der deutschen Gegenwart. Sie kommt aus einer nazifeindlichen Familie; ihre Eltern hielten während der Kriegsjahre ein jüdisches Mädchen versteckt. Als Präsidentin der deutsch-polnischen Universität in Frankfurt/Oder hat sie seit 1999 Sponsoren und Studenten motiviert. Im Jahr 2004 wurde sie dann als SPD-Kandidatin gegen Horst Köhler aufgestellt. Trotz Stimmen aus dem konservativen Lager verlor sie im ersten Wahlgang.

Nach der überraschenden, einstimmigen Entscheidung der SPD-Führung, die 65-jährige Politprofessorin wieder als Kandidaten gegen einen amtierenden Bundespräsidenten aufzustellen, geben ihr erste Blitzumfragen keine Chancen. Doch waren selbst konservative Beobachter beeindruckt durch Schwans Auftreten bei der ersten langen Pressekonferenz nach ihrer Nominierung. Angesichts ihrer medialen Schlagfertigkeit schrieb die Leitartiklerin der Welt, "welch Geschenk des Himmels in diesen für die Sozialdemokraten so trostlosen Zeiten".

Sie empfinde Lust, weil die Demokratie nun einmal immer schon ihre Lebensaufgabe gewesen sei - die Demokratie brauche Mut, sagte Schwan. "Lust" in der Politik ist freilich eine ungewöhnliche Kategorie. Ich kann mich nur an eine ähnliche Aussage eines Politikers erinnern, nämlich an Bruno Kreisky bei einem Pressegespräch im Frühjahr 1970 am Anfang seines beispiellosen Triumphzuges. Obwohl seit eh und je eine stramme Antikommunistin und einst "Rechtsabweichlerin" (im Falle des Nato-Doppelbeschlusses), bekundete Gesine Schwan nun ihre Bereitschaft, auch die Stimmen der Linkspartei zu akzeptieren. In den Reihen des CDU-Koalitionspartners brach ein Sturm der Entrüstung los.

Durch seine neuerliche Kehrtwendung in der Kandidaturfrage erlebt der wankelmütige SPD-Vorsitzende Kurt Beck einen beispiellosen Absturz: Nur noch 20 Prozent der Befragten sind mit seiner Arbeit zufrieden. Dagegen bekommt der amtierende Bundespräsident 85 und Kanzlerin Merkel 69 Prozent. Die Begleitumstände sind also für die SPD und vor allem für den von allen guten Geistern verlassenen Beck geradezu verheerend. All das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Gesine Schwan eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Persönlichkeit ist. Sie wäre möglicherweise für das höchste Amt intellektuell und menschlich besser qualifiziert als der biedere, korrekte und farblose Horst Köhler. Mut und Lust in der Politik sind nämlich Mangelwaren - nicht nur in Deutschland. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Printausgabe, 29.5.2008)