Was Zeit braucht, ist die Führung der Vor- und Sauerteige, die Kasses' Brot besonderes Aroma und anhaltenden Wohlgeschmack verleihen.

Foto: Heribert Corn
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Handsemmeln zu schlagen ist Chefsache - und durchaus eine Frage der Schnelligkeit.

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Wenn man Freunde und Geschäftspartner nach Erich Kasses fragt, geht erst einmal ein Leuchten über ihre Gesichter, und zwar bei jedem. Dann sagen die meisten: "Ganz tolles Brot". Davon abgesehen, gibt es noch einen weiteren Kommentar, den man mit erstaunlicher Regelmäßigkeit zu hören kriegt: "Der Mann ist ein Spinner". Das geht insofern in Ordnung, als Erich Kasses das selbst auch so sieht: "Wer zwanzig verschiedene Sauerteige kultiviert, der muss ein bissl ein Spinner sein". Das Resultat gibt dem Bäcker aus Thaya im Waldviertel freilich recht: Sein Brot ist wirklich besonders gut, wahrscheinlich das beste, das es in der Bundeshauptstadt (und vielleicht im ganzen Land) zu kaufen gibt. Und er macht es in vielen verschiedenen Varianten. Bis zu 135 Sorten Brot, Gebäck und Süßes bäckt er jede Nacht in seiner Backstube im kleinen Ort Thaya, kaum 10 Kilometer von der tschechischen Grenze, aber 130 Kilometer von Wien entfernt. Ehrfurcht der Italiener Das allein ist noch nicht so besonders. Dass Kasses die vielen Sorten ausschließlich aus naturbelassenen Zutaten bäckt, ohne E-Zusatzstoffe, mit minimalem Germeinsatz - dafür aber mit den erwähnten zwanzig verschiedenen, über Jahre selbst kultivierten Sauerteigen und mit ungefilterter Salzsole statt raffiniertem Salz: Das gibt es heute fast nirgends mehr. Dass er ein Sauerteig-Ciabatta und einen Panettone bäckt, bei denen selbst fanatische Italiener in Ehrfurcht erstummen, weil sie etwas so Gutes, Authentisches selbst in der Heimat kaum noch bekommen - das macht ihm nicht so bald jemand nach.

Brot dieser Qualität braucht vor allem eines - Zeit. Deshalb wurde er nun als erster Österreicher in die Vereinigung der "Slow Baker" aufgenommen, einen Verein, der sich im Zeitalter tiefgekühlter Chemie-Teiglinge und künstlich parfümierter Backshops dem Schutz eines gefährdeten Handwerks verschrieben hat: der Herstellung von Brot nach überlieferten Techniken. Seitdem darf Kasses sich sozusagen offiziell als "langsamster Bäcker des Landes" bezeichnen - ein Titel, der ihm gefällt. "Weil sich die Langsamkeit auf die Teigführung bezieht, auf die Zeit, die man dem Teig gibt, sich aromatisch zu entwickeln".

Tatsächlich ist Zeit das entscheidende Moment, wenn es um die Entstehung erstklassigen Brotes geht: Jene Bakterienkulturen, die Sauerteig (und damit den Wohlgeschmack) erst entstehen lassen, wollen sorgfältig kultiviert und mehrmals täglich gefüttert werden. Idealerweise über mehrere Tage, denn nur so entsteht aus einem geschmacklich eher dumpfen Mehl-Wasser-Gemisch die aromatische Basis für eine der ältesten kulinarischen Kultur-leistungen überhaupt: Brot. Bei Erich Kasses arbeiten die Kulturen in massiven Metallbottichen - für jene Brotsorten, die sich besonders gut verkaufen - oder, für die Spezialsorten, in kleinen Holzfässern, die er selbst gezimmert hat.

Sozial kaum verträgliche Arbeitszeiten

Das tun sich heute immer weniger Bäcker an, weil es, wie auch bei Kasses, dazu führt, dass man, in und außerhalb der Arbeitszeit, alle acht Stunden zu den Sauerteigen muss, um sie mit frischem Wasser und Mehl zu füttern. Zusammen mit den sozial ohnehin kaum verträglichen Arbeitszeiten ist dies ein durchaus triftiger Grund dafür, dass es immer weniger echtes Bäckerbrot gibt.

Jeden Tag (bis auf Sonntag) steht der 52-jährige Kasses pünktlich um drei Uhr früh in der Backstube. Dietmar Eggenberger, seit 25 Jahren in der Firma und laut Kasses dessen "Stellvertreter", ist da bereits seit eineinhalb Stunden bei der Arbeit, gemeinsam mit zwei weiteren Gesellen und fünf Lehrlingen. Langsame Teigführung heißt nämlich nicht, dass es damit auch in der Backstube langsam zugehen darf - im Gegenteil: Ab fünf Uhr fahren die ersten Lieferwagen aus, bis dahin müssen nicht alle, aber doch etliche der Sorten fertiggebacken sein. Kasses, in kurzen Hosen, T-Shirt und Bäckerschürze, hat die Teigarbeit über: Er formt die Brote, speziell die empfindlichen Ciabatte aus dem hoch aufgegangenen, extrem wabbeligen, luftigen und duftigen Weizensauerteig, der vom Olivenöl glänzt. Er formt sämtliche Handsemmeln (um die 300 in 45 Minuten!), weil sie "nun einmal die Visitenkarte jedes Bäckers sind", wie er sagt. Er bestimmt, wie viele Handvoll selbsteingelegte Rumrosinen zum Striezelteig kommen und kontrolliert mittels Duftprobe, ob der Waldstaudensauerteig aus einem im Waldviertel heimischen Urgetreide auch brav arbeitet. Zwischendurch gesellt er sich zu den Lehrlingen, die heute Morgen 2500 Mohnflesserln zu flechten haben. Stellvertreter Eggenberger bedient derweil die fünf Öfen: schiebt hier einen Wagen mit Striezeln in den Heißluftofen, schießt dort Ciabatta rotonda in den sieben Tonnen schweren Steinofen ein.

Nur auf Vorbestellung

Wenn wir schon dabei sind: das Sauerteig-Ciabatta. Es ist jenes Brot, das Kasses' Ruhm wesentlich begründet hat. Dabei hat Ciabatta anderswo einen denkbar schlechten Ruf, darf als halb durchgebackener Teigling, bis oben voll mit Kunsttriebmitteln und Konservierungsstoffen ebenso verkauft werden wie als "dünne Luft mit Kruste" aus dem Backshop-Ofen mit einem Geschmack wie gerösteter Karton. Bei Kasses schmeckt man den Sauerteig und das Roggenmalz, da macht die luftige, saftige Krume auch Tage nach dem Kauf noch Freude. In Thaya selbst verkauft er es freilich bis heute nur auf Vorbestellung, da stehen die Kunden mehr auf seine Semmeln. In Wien, wo es an etlichen feinen Adressen vertrieben wird, da ist es allabendlich mit schöner Regelmäßigkeit ausverkauft.

Bis heute ist Kasses' mit Abstand wichtigster Abnehmer freilich Meinl am Graben, auch aus persönlichen Gründen: Der inzwischen pensionierte Geschäftsführer Helmut Touzimsky war es, der ihm vor mehr als 20 Jahren den "alles entscheidenden Tipp" gegeben hatte: "Backen Sie so wie zu Großvaters Zeiten, das ist die Zukunft", habe Touzimsky Kasses damals geraten, als er mit ein paar Waldviertler Mohnzelten am Graben vorstellig geworden war. "Lange hab ich Meinl nur diese Zelten geliefert, wobei die Fracht mehr gekostet hat, als der Wert der Ware war", sagt Kasses heute, "aber dann sind ihm die guten Bäcker nach und nach in Pension gegangen". Auch wenn es noch viele Jahre dauern möge, bis das einmal bei Kasses der Fall sein wird, ist es jetzt schon Zeit, sich die Frage zu stellen: Und von wem kriegen wir dann gebacken? (Severin Corti/Der Standard/rondo/30/05/2008)