Gertrude Tumpel-Gugerell weist Forderungen nach wachstumsfreundlicher Politik zurück. "Stabilität und Wachstum sind keine Gegensätze."

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Nachgefragt hat Michael Moravec.

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STANDARD: Wie groß ist der wirtschaftliche Einfluss der EZB, wo ist die "Handschrift" der Zentralbank ersichtlich, und wo sind die Grenzen der Lenkungsmöglichkeiten?

Tumpel-Gugerell: Die Handschrift der EZB ist nicht zu übersehen. Dank unserer stabilitätsorientierten Politik konnte in den vergangenen neun Jahren die Inflationsrate deutlich niedriger gehalten werden als vor der Einführung des Euro. Darüber hinaus haben wir mit der Einführung des Euro eine glaubwürdige und stabile Währung geschaffen. Die gemeinsame Währung hat den Handel zwischen den Ländern der Eurozone enorm gestärkt, und die Eurozone für externe und interne Schocks widerstandsfähiger gemacht hat. Nicht zu vergessen ist, dass Verbraucher, Unternehmen und die öffentlichen Haushalte von dem im Vergleich zu vorher deutlich niedrigeren Zinsniveau profitieren.

STANDARD: Kritik - vor allem aus Frankreich - lautet immer wieder, die EZB wäre zu sehr der Preisstabilität und zu wenig dem Wirtschaftswachstum verpflichtet. Wie sehen Sie die Gewichtung, und wie sehen die Lehren nach den ersten zehn Jahren aus?

Tumpel-Gugerell: Geldpolitik ist keine Schraube, an der man einmal mehr nach links und einmal mehr nach rechts dreht und schon ist das gewünschte Resultat da. Preisstabilität und nachhaltiges Wachstum stehen nicht im Gegensatz zueinander. Wir sind davon überzeugt, dass Preisstabilität eine Grundlage ist, um nachhaltiges Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu erzielen. Es gibt also keinen Widerspruch, jedoch einen engen Wirkungszusammenhang zwischen Preisstabilität, Inflationsbekämpfung und Wirtschaftswachstum. Die Zahlen der letzten zehn Jahre belegen dies auch. Die Inflationsrate betrug im Durchschnitt 2,1 Prozent in der Eurozone, mehr als 15 Millionen neue Arbeitsplätze wurden seit der Einführung der gemeinsamen Währung geschaffen, und die durchschnittliche Wirtschaftswachstumsrate lag bei 2,2 Prozent seit 1996.

STANDARD: Derzeit gibt es in der Eurozone Länder mit knapp 2,5 Prozent Inflation und welche mit deutlich mehr als vier Prozent. Was sind dafür die Gründe, und ist da ein einheitlicher Zinssatz nicht immer nur ein Kompromiss, der für kein Land richtig ist? Wie sehr vergrößert sich das Problem mit dem Beitritt wirtschaftlich schwächerer Länder wie der Slowakei 2009?

Tumpel-Gugerell: Die unterschiedlichen Preisentwicklungen zwischen den einzelnen Ländern in der Eurozone sind vergleichbar mit den Abweichungen die wir beispielsweise zwischen den verschiedenen Wirtschaftsregionen in den USA beobachten können. Und dies stellt die Wirkungskraft unserer einheitlichen Geldpolitik nicht infrage. Allerdings sollten Divergenzen in Grenzen gehalten werden. Gerade deshalb ist die nachhaltige Erfüllung der Konvergenzkriterien bei den neuen Mitgliedern der Eurozone wichtig.

STANDARD: Wie sehr ist die Eurozone schon ein einheitlicher Wirtschaftsraum geworden? Die Fundamentaldaten gehen zum Teil in eine andere Richtung. Beispiel Lohnstückkosten: In Österreich und Deutschland wuchsen diese seit 2000 real kaum, in Frankreich, Spanien, Italien um teilweise mehr als 20 Prozent. Früher hätte es in diesen Ländern dann Abwertungen gegeben. Wie geht man nun mit dem Problem um?

Tumpel-Gugerell: Der Euro hat dazu beigetragen, dass sich die unterschiedlichen Wirtschaften der Eurozone angeglichen haben. Aber es gibt Unterschiede im Entwicklungsstand und in der Wirtschaftspolitik. Wenn der Wechselkurs nicht mehr als Anpassungsmechanismus zur Verfügung steht, müssen Kosten und andere Wettbewerbsfaktoren im jeweiligen Land und im Gleichklang mit den anderen Mitgliedern der Währungsunion gestaltet werden. Anderenfalls sind früher oder später schmerzliche Prozesse notwendig. Deswegen ist es sehr wichtig, was wir immer und immer wieder betonen, dass die notwendigen Strukturreformen umgesetzt werden und damit die Wettbewerbsfähigkeit verbessert wird.

STANDARD: Der Euro gilt als wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Bei den Konsumenten ist er aber nicht unbedingt sehr beliebt.

Tumpel-Gugerell: Persönlich bin ich überzeugt, dass der Euro mehr und mehr an Akzeptanz gewinnt. Laut der letzten Umfrage des Eurobarometers empfinden fast drei Viertel der Bevölkerung der Euro-Länder den Euro positiv. Trotzdem müssen wir die Sorgen der Menschen wegen der Preissteigerungen ansprechen und glaubwürdig machen, dass auf mittlere Sicht wieder Preisstabilität erreicht wird.

STANDARD: Warum ist die "gefühlte Teuerung" erst mit dem Euro so stark geworden?

Tumpel-Gugerell: Einen Unterschied zwischen der Preiswahrnehmung der Verbraucher und der gemessenen Inflation hat es schon immer gegeben. Dabei spielt der persönliche Warenkorb eine entscheidende Rolle, zum Beispiel Preiserhöhungen beim Kauf von Lebensmitteln und Benzin spürt jeder sofort, aber eine Preissenkung wie bei Computern und Kameras nicht. Beim Euro kam hinzu, dass für viele Verbraucher Preise in der vorherigen nationalen Währung immer noch eine wichtige Bezugsgröße waren oder sind. Die Differenz zwischen der gemessenen und gefühlten Inflation ist sicher eine der wichtigsten Herausforderungen für Zentralbanken, nicht nur für die EZB.

STANDARD: Gibt es eine "gesamtwirtschaftliche" Schätzung über den Mehrwert des Euro?

Tumpel-Gugerell: Eine solche Schätzung ist selbst für Ökonomen nicht einfach. Fest steht, dass der Euro Stabilität und Vertrauen geschaffen hat, niedrigere Zinsen für private Haushalte, Unternehmen und öffentliche Haushalte gebracht hat. Dieser Effekt allein ist sehr beträchtlich. Die Beseitigung von Wechselkursunsicherheit hat zu intensiverem Handel und Strukturreformen zu mehr Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Europa geführt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.5./1.6.2008)