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Grafik: APA
Kurz vor der Volksabstimmung über den EU-Reformvertrag in Irland liegen die Gegner in Umfragen erstmals vorn. Die Regierung hat noch bis Donnerstag Zeit, den Trend zu brechen.

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Donnerschlag von der „Alten Dame“, wie die renommierte irische Tageszeitung Irish Times liebevoll genannt wird: Am Freitag veröffentlichte das Blatt die erste Meinungsumfrage, die erstmals eine klare Mehrheit gegen eine europäische Vorlage ergeben hat. 35 Prozent wollen am nächsten Donnerstag gegen die Ratifikation des EU-Reformvertrags von Lissabon stimmen, nur 30 Prozent dafür, und mehr als ein Drittel bleibt unentschlossen.

Im Verlauf von lediglich drei Wochen haben die Gegner 17 Prozentpunkte zugelegt, also ihren Anteil praktisch verdoppelt. Die Zeitung stellte nur trocken fest, es gebe kein Vorbild für die Umkehr eines derartigen Trends in der letzten Woche. Bevor Irland im Jahre 2001 den EU-Vertrag von Nizza ablehnte, hatte die letzte Umfrage der Irish Times noch eine deutliche Zustimmung ergeben.

Irlands Buchmacher hatten einen guten Riecher: Sie stuften die Chancen einer Zustimmung schon am Donnerstag zurück. Irlands grösster Buchmacher, Paddy Power, senkte die Quoten für eine Ablehnung des Vertrages drastisch von 5/1 auf 3/1. Die Widerborstigkeit der irischen Wählerschaft ist indessen erklärungsbedürftig. Schließlich hat das kleine Land in den letzten 35 Jahren rund 40 Milliarden Euro netto aus den Brüsseler Kassen erhalten und seit den Neunzigerjahren einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung erlebt.

Umfragen zeigen konsequent, dass die Iren zu den begeisterten Europäern gehören; es gibt letztlich keine Gruppierung, die den Austritt aus der EU auch nur erwägt. Die Zugehörigkeit zum europäischen Verbund erlaubte den Iren außerdem, aus dem britischen Windschatten herauszutreten, was einen entscheidenden Einfluss auf die friedliche Lösung des Nordirlandkonflikts ausübte. Folgerichtig setzen sich auch sämtliche im irischen Parlament vertretenen Parteien für die Annahme des neuen EU-Vertrags ein, mit Ausnahme der kleinen Sinn-Féin-Partei.

Die neueste Umfrage fragt auch nach den Motiven der Gegner. 30 Prozent begründen ihre Ablehnung mit ihrer eigenen Ignoranz. Sie wüssten nicht, worum es gehe. Weitere 24 Prozent sorgen sich um Irlands Einfluss und Identität. Man darf unterstellen, dass sie beispielsweise gegen den zeitweiligen Verlust des eigenen EU-Kommissars sind und die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat ablehnen. 22 Prozent befürchten die Aushöhlung der irischen Neutralität, während 17 Prozent das unangenehme Gefühl haben, von den Befürwortern erpresst zu werden.

Der jüngste Schnappschuss der öffentlichen Meinung hat zwei offensichtliche Schwachstellen: Zum einen ist die Zahl der Unentschiedenen noch immer ungewöhnlich hoch – Spielraum für die großen Parteien, zumal die Neinstimmen ja angeblich nicht als Nasenstüber für eine unpopuläre Regierung gedacht sind. Zum zweiten behaupten 82 Prozent, sie wollten „ziemlich sicher“ an die Urne gehen. Das ist höchst unglaubwürdig. 2001 nahmen sich bloß 34 Prozent die Mühe, ihrer Bürgerpflicht nachzukommen. Ein Jahr später, als der Nizza-Vertrag doch noch akzeptiert wurde, kamen 49 Prozent.

Die Befürworter ließen sich lange Zeit, ernsthaft mit ihrer Kampagne zu beginnen. Der unfreiwillige Rücktritt von Premierminister Bertie Ahern wegen zwielichtiger Geldgeschäfte lenkte die Aufmerksamkeit seiner Fianna-Fáil-Partei vom Referendum ab. Als der neue Regierungschef, Brian Cowen, endlich die Ärmel hochkrempelte, hatten sich die Argumente der Gegner schon eingenistet. Kritiker werfen ihm ohnehin vor, den Lissabon-Vertrag nur halbherzig zu unterstützen.

Die Gegnerschaft ist alles andere als homogen; sie spannt sich von stockkonservativen Katholiken, die in jedem Referendum einen heimlichen Anschlag auf das irische Abtreibungsverbot wittern, bis hin zu linken Gewerkschaftern, die sich vor der überbordenden Wettbewerbspolitik der EU fürchten.

Neu ist diesmal der Einsatz des finanzstarken Unternehmers Declan Ganley, der eigens für diese Kampagne das Institut Libertas gegründet hat. Er fordert nun die Beibehaltung des irischen Kommissars und ein Zusatzprotokoll, das die irische Körperschaftssteuer von 12,5 Prozent garantiert.

Sinn Féin, ehemals der politische Flügel der IRA, empfiehlt als einzige parlamentarische Partei die Verwerfung. Nicht ganz überzeugend behauptet die Bannerträgerin der Kampagne, die Europa-Abgeordnete Mary Lou McDonald, Irland könne anschließend einen besseren Vertrag aushandeln.

Das bevorstehende Referendum ist das sechste Europa-Plebiszit in Irland seit 1987. Selbst der Altvater der europäischen Integration in Irland, der ehemalige Premierminister Garret FitzGerald, seufzt im Gespräch, damit solle es nun aber genug sein.

Der aufgeweckte Kolumnist der Irish _Times, Fintan O’Toole, formulierte unlängst das Paradoxon dieser Abstimmung: Nur ein Ja könne die ungesunde Nabelschau der Europäischen Union beenden; anschließend könne man sich vielleicht den sachlichen Problemen Europas zuwenden. Aber es scheint im Moment unwahrscheinlich, dass die irische Wählerschaft sich von derartigen Argumenten überzeugen lässt. (Martin Alioth aus Dublin/DER STANDARD, Printausgabe, 7./8.6.2008)