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Schutz für das Erbe Atatürks oder Justiz-Putsch gegen die islamische Regierungspartei AKP? Türkische Studentinnen demonstrieren gegen das Kopftuchverbot.

Foto: Reuters/Umit Bektas
„Es geht um die Demokratie, nicht um das Kopftuch“, sagt die liberale türkische Soziologin Nilüfer Göle zum erneuten Kopftuchverbot des Verfassungsgerichts. Das Gespräch führte Hans Rauscher.

STANDARD: Frau Professor Göle, das Verfassungsgericht in Ankara hat die von der gemäßigt-islamischen Regierungspartei AKP verfügte Erlaubnis, an den Universitäten Kopftuch zu tragen, wieder aufgehoben. Was bedeutet das politisch für die Türkei?

Göle: Die optimistische Version ist, dass sie nun nicht mehr die AKP verbieten müssen (die Staatsanwaltschaft hat ein Verbotsverfahren wegen Verstoßes gegen die säkulare Verfassung eingeleitet, Anm.). Die pessimistische Version, die für mich die realistischere ist, bedeutet, dass dies nur den Weg für ein Verbot der AKP wegen Verstoß gegen die säkulare Verfassung ebnet. Das Gericht sagt damit, dass es keine Möglichkeit gibt, die vom Militär diktierte kemalistische Verfassung zu ändern. Das ist ein autoritärer Säkularismus, in dem es keinen Platz für demokratische Diskussion gibt.

STANDARD: Sie selbst sind eine Vertreterin der westlich orientierten, liberalen türkischen Frauen. Sie müssten sich über das neuerliche Kopftuchverbot freuen.

Göle: Es geht nicht mehr ums Kopftuch, sondern um die Demokratie. Das ist ein Staatsstreich der Justiz. Das heißt, dass man die heutige Gesellschaft nicht mehr verändern und anpassen kann. Es ist eine Intervention der alten kemalistischen Politik, die Pluralismus in der türkischen Gesellschaft vermeiden will. Die alte kemalistische Elite behauptet, dass dadurch die Reformen Kemal Atatürks rückgängig gemacht würden. Aber es ist auch ganz einfach ein politisches Machtspiel.

Die alte Elite hat immer in die Politik eingegriffen, die Coups sind jetzt aber anderer Natur. Früher ist das Militär aufmarschiert, hat die Rundfunkstation besetzt usw. Heute ist es eben die Justiz, die eingreift. Das ist eine Delegitimierung der Demokratie. Und das bringt unser politisches System in eine Krise. Die Aufhebung des Kopftuchverbots durch die AKP ist ja eine Begründung für den Verbotsantrag gegen die AKP.

STANDARD: Dennoch könnte man sagen, das Kopftuch ist ein Symbol für eine rückständige, islamistische, frauenfeindliche Türkei.

Göle: Ich war dafür, das Kopftuchverbot aufzuheben, weil wir mehr Vertrauen in den türkischen Säkularismus haben sollten. Die säkulare Haltung in der Türkei ist stark genug, um die Kopftücher auszuhalten. Die Ironie ist, dass wir das Kopftuch im Namen der Frauenrechte verbieten.

STANDARD: Sie haben sich wissenschaftlich auch mit den Muslimen und Musliminnen in Europa beschäftigt. Hier sehen wir mehr und mehr junge Frauen mit Kopftuch.

Göle: Das ist teilweise ein Protest gegen die westliche Gesellschaft. Aber Sie müssen beobachten: Es gibt eine Mode und eine Ästhetik des Kopftuches. Es schafft sogar neue Märkte. Ich bin Soziologin, ich bin immer interessiert an neuen Phänomenen. Wenn das Kopftuch aufgezwungen wird, wie im Iran oder von den Eltern und Brüdern, dann ist es falsch.

Als ich an einer Istanbuler Universität lehrte und diese Mädchen mit dem Kopftuch sah, dachte ich: Was zum Teufel tun die hier? Aber noch ihre Mütter waren überhaupt nicht sichtbar. Sie waren zu Hause eingeschlossen und waren Analphabeten. Diese Mädchen sieht man wenigstens, wenn auch mit dem Kopftuch, und sie bekommen eine Erziehung. (DER STANDARD, Printausgabe, 7./8.6.2008)