Brüssel/Wien - Lob und Kritik erntete der heute Nacht beschlossene EU-Arbeitszeit-Kompromiss, der unter bestimmten Bedingungen eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit von derzeit 48 auf 65 Stunden zulässt. Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Bartenstein (ÖVP) hat den Kompromiss zu den EU-Arbeitszeitregeln und zu Leiharbeit gelobt, den er und seine Ressortkollegen in den frühen Morgenstunden - im siebenten Anlauf - erzielt haben. Das sei "ein ganz wichtiges Signal für die Handlungsfähigkeit Europas, 48 Stunden vor dem irischen Referendum" und "ein Schritt hin zu einem sozialen Europa, ohne dass der Wettbewerb beeinträchtigt wird", sagte Bartenstein. In Österreich bringe die neue EU-Regelung keine Änderung. Für Österreich ändere sich durch die Novelle der EU-Arbeitszeitrichtlinie "nichts". "Außer, dass mein Schlaf ruhiger sein wird, weil wir in Sachen Arbeitszeit in den Spitälern nicht mehr gegen EU-Recht verstoßen", sagte Bartenstein.

Der Europäische Gerichtshof hatte in zwei Urteilen von 2000 bzw. 2003 entschieden, dass Bereitschaftszeit als Arbeitszeit zu rechnen ist. Seither verstießen fast alle EU-Staaten gegen EU-Recht. Die EU-Kommission drohte wiederholt mit Vertragsverletzungsverfahren, verzichtete aber darauf, nachdem seit damals über die Novelle der Arbeitszeitrichtlinie verhandelt wurde. Mit der Novelle wird künftig zwischen aktiver und inaktiver Bereitschaft unterschieden. Durch den Kompromiss sei dieses "Damoklesschwert in Sachen Spitalsärzte vom Tisch", sagte Bartenstein. An der vorgegebenen Arbeitszeit "soll, muss und wird sich nichts ändern". Österreich werde weiter keinen Gebrauch von den Möglichkeiten machen, über die normale wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden hinaus zu gehen.

Zu viele Ausnahmen

Dass der Kompromisstext, der jetzt noch mit dem EU-Parlament verhandelt werden muss, den Mitgliedstaaten zu viele Ausnahmen erlaube, sieht der Wirtschaftsminister nicht: "Die Regelung ist nicht löchrig wie Schweizer Käse, sondern bunt wie ein Strauß Blumen." Mit der neuen Richtlinie werde nur auf die Subsidiarität und die unterschiedliche Tradition in den Mitgliedstaaten Rücksicht genommen. Zudem müssten sämtliche Änderungen von den Kollektivvertrags- bzw. Sozialpartnern verhandelt werden.

Auch in Österreich gebe es "100 verschiedene Arbeitswelten", so der Wirtschaftsminister, "die Situation ist gewachsen im besten Sinne". Problematisch wäre der Kompromiss nach Meinung Bartensteins, wenn es komplette Ausnahmen für einzelne Länder gegeben hätte, wie derzeit für Großbritannien. Verbesserungen erwartet Bartenstein daher in erster Linie für englische Arbeitnehmer. Außerdem würden jene 65 Stunden, die Mitarbeiter in der EU künftig maximal pro Woche arbeiten dürfen, "die Ausnahme sein, die können nicht die Regel sein."

Hundstorfer: „Verheerendes Signal“

Während ÖGB-Präsident Rudolf Hundstorfer von einem "verheerenden Signal für das soziale Europa", spricht, wird die neue Regelung vom stellvertretenden Generalsekretär der Wirtschaftskammer (WKÖ), Reinhold Mitterlehner, begrüßt.

Mit der Einigung seien die Arbeitsminister weit über das Ziel hinausgeschossen zum Nachteil der Arbeitnehmer in Europa, sagte Hundstorfer den Kompromiss. Großbritannien sei für seine jahrelange Blockadepolitik auch noch belohnt worden, dagegen hätten die Forderungen der Gewerkschaften und des EU-Parlaments im Rat keine Berücksichtigung gefunden.

Unter Flexicurity stelle sich die Gewerkschaft etwas anderes vor als ausschließlich Flexibilisieren ohne Sicherungen einzuführen. Er setzte nun auf das EU-Parlament. "Die Abgeordneten werden sich hoffentlich nicht dem faulen Kompromiss der Mitgliedstaaten beugen, sondern ein deutliches Zeichen für ihre politische Eigenständigkeit setzen."

Die ganze Diskussion über die Arbeitszeitrichtlinie in der EU wurde ursprünglich durch die EuGH-Entscheidungen zur Arbeitsbereitschaft ausgelöst. Die nationalen Gewerkschaftsverbände wie auch der Europäische Gewerkschaftsbund haben hier immer Kompromissbereitschaft signalisiert, solange es um sozial ausgewogene Lösungen unter Einbindung der Sozialpartner ging. "Was jetzt auf dem Tisch liegt, ist jedoch sozial unausgewogen und geht einseitig zulasten der Arbeitnehmer", so Hundstorfer. Die ebenfalls erfolgte Einigung auf eine Richtlinie für Leiharbeitnehmer könne am ernüchternden Gesamtergebnis des Rates kaum etwas ändern.

Scharfe Kritik

Scharfe Kritik kommt heute auch von den Alternativen, Grünen und Unabhängigen Gewerkschaften (AUGE/UG). "Die EU-Arbeitszeitrichtlinie, auf die sich heute der EU-Ministerrat geeinigt hat, ist klar abzulehnen. Es bleibt nur zu hoffen, dass das EU-Parlament diesem Vorschlag ein Begräbnis erster Klasse bereitet," kritisiert AUGE/UG-Bundessekretär Markus Koza. Das sei jedenfalls keine Arbeitszeitpolitik, die sich an den Bedürfnis- und Lebenslagen der Arbeitnehmer orientiert, sondern der Wirtschaft nur noch mehr Zugriff auf die ohnehin knappe Ressource Zeit der Arbeitnehmer erlaubt.

Für den Wiener Bürgermeister Michael Häupl (SP) stellt die Einigung einen "eklatanten sozialen Rückschritt" dar. Es habe sich dabei um "keine Glanzstunde" der EU gehandelt, meinte Häupl am Dienstag in der Bürgermeister-Pressekonferenz. "Die Auswirkungen unmittelbar auf Wien werden wir uns im Detail anschauen", kündigte er an.

Er versicherte jedoch, dass es keine Auswirkungen auf die Feuerwehr oder die Ärzte in den Wiener Spitälern geben werde. "Wir werden die Organisationsstruktur der Wiener Feuerwehr mit Sicherheit nicht ändern, auch wenn wir deswegen vor den europäischen Gerichtshof müssen", erklärte Häupl: "Das wird nicht stattfinden."

Mitterlehner begrüßt Kompromiss

"Der jetzt gefundene Kompromiss ist zu begrüßen, weil die österreichische Regelung zur Bereitschaftszeit beibehalten werden kann. Die in Österreich bereits durchgeführten Flexibilisierungsschritte im Bereich des Arbeitszeitrechts spiegeln sich nun auch auf europäischer Ebene wieder", so hingegen Mitterlehner.

Die Neufassung der Richtlinie sei nötig geworden, nachdem der Europäische Gerichtshof in einem Urteil aus dem Jahr 2004 entschieden hatte, dass Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit zu werten und daher in die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden einzurechnen sind. "In der Neufassung wird die inaktive Zeit des Bereitschaftsdienstes nicht als Arbeitszeit gewertet. Somit kann die bestehende österreichische Regelung zur Bereitschaftszeit aufrechterhalten werden", betonte Mitterlehner.

Sozialminister: Kein positives Signal

Sozialminister Erwin Buchinger (SPÖ) hat sich nach Bekanntwerden des nächtlichen EU-Ratskompromisses zur Arbeitszeit enttäuscht gezeigt: "Bei aller Wertschätzung dafür, dass nach jahrelangen Blockaden überhaupt eine Einigung auf europäischer Ebene zustande gekommen ist, sehe ich in dem Beschluss keinen Ausdruck eines starken sozialen Europas wie ich es mir vorstelle." Es sei kein positives Signal für die Arbeitnehmer, die sich ein Mehr an Sicherheit wünschten, die Möglichkeit einer Arbeitszeitverlängerung festzuschreiben.

Als "Geschenk an die Arbeitnehmer" scharf kritisiert wurde die Brüsseler Einigung auch von SPÖ-Europasprecherin Elisabeth Grossmann. Sie verweis auf die Regelungen über die inaktive Arbeitsbereitschaft und die Möglichkeit des individuellen Opting-outs über 48 Wochenstunden hinaus. Für Grünen-Arbeitnehmersprecherin Birgit Schatz ist die Einigung zur Arbeitszeit und Leiharbeit ein "Schritt zurück für die hart errungenen Arbeits- und Sozialstandards in Europa".

Absurde Höchstarbeitszeitgrenzen einzuführen, ist laut Buchinger ein zu hoher Preis für die notwendige Gleichstellung von Leiharbeitern, noch dazu wenn dieser begrüßenswerte Teil der Vereinbarung mit einem "Opt-out" versehen wurde.

"Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen uns, dass die Versuchung groß ist, sich europäischen Standards nicht nur von unten, sondern auch von oben zu nähern. Das darf im Falle der Arbeitszeit unter keinen Umständen passieren", meinte Buchinger. Dass die geltende österreichische Rechtslage durch die Einführung europäischer Mindeststandards vorerst nicht berührt werde, dürfe kein Lippenbekenntnis sein, sondern müsse von Wirtschaftsminister und Arbeitgeberseite klar außer Streit gestellt werden.

"Wie falsch dieses Signal auf europäischer Ebene ist, zeigt sich daran, dass schon heute in Österreich 365 Millionen Überstunden pro Jahr geleistet werden. Das sind mehr Stunden, als alle Arbeitsuchenden bei uns zusammen leisten könnten. Anstatt Höchstarbeitszeiten auszuweiten und immer mehr Überstunden zu fordern und zu fördern, sollte über eine Arbeitszeitverkürzung nachgedacht werden", so Buchinger. (APA)