Die Stimmung des irischen Binnenmarktkommissars Charlie McCreevy werde seit Wochen jeden Tag etwas düsterer, und mittlerweile rechne er mit einem Nein seiner Landsleute zum Reformvertrag. Einige seiner Kollegen betrachteten ihn deswegen schon als zwanghaften Pessimisten. Andere hätten begonnen, sich selbst zu fürchten.

So beschreiben EU-Kommissare derzeit die Stimmung im Brüsseler Machtzentrum. Offiziell wird am Ja der Iren natürlich nicht gezweifelt und jeder Gedanke an einen „Plan B“ verworfen, ein Plan für den Fall, dass die Antwort der knapp drei Millionen Stimmberechtigten doch Nein lauten sollte. Doch in den Schubladen der Strategen liegen bereits verschiedene Antworten.

  • „Nizza Reloaded“ heißt die einfachste Variante. Schon der Vertrag von Nizza wurde von den Iren bei der ersten Abstimmung 2001 abgelehnt. Es gab dann kleine Nachbesserungen und Zusatzprotokolle, und 2002 stimmten die Iren schließlich zu. Genau so könnte es wieder gehen, meinen vor allem die Technokraten in Brüssel und in den EU-Hauptstädten. Unmöglich, kontern viele Politiker und Diplomaten auch, wenn Kameras ausgeschaltet und Notizblöcke weggelegt sind.

    Nach dem doppelten Nein aus Frankreich und den Niederlanden sei der Reformvertrag eigentlich schon Plan B, und wenn der nun auch abgelehnt werde, könne man nicht mehr so weitermachen wie bisher. „Nizza Reloaded“ würde aus vielen Menschen, die der EU bisher neutral bis positiv gegenüberstanden, EU-Gegner machen. Darüber hinaus gibt es kaum einen irischen Spitzenpolitiker, der nicht eine zweite Abstimmung nachdrücklich ausgeschlossen hätte.

  • „Your Problem, Ireland!“ lautet die „coole“ Variante, die von vielen Experten als die im Moment modernste bezeichnet wird. Die Argumentation: 15 EU-Länder haben bis jetzt zugestimmt, weitere elf werden dies bis Jahresende aller Voraussicht nach tun. Drei Millionen Iren können nicht eine Union mit bald 500 Millionen Menschen stoppen. Es liege also an Irland, zu sagen, wie es nun weiter gehe.

    Diese Spielart eines Nein läuft auf ein Europa der zwei Geschwindigkeiten hinaus: Länder, die in einer Kern-EU eine größere Integrationstiefe anstreben, und Länder, die vielleicht mit einer Handelsunion zufrieden sind. Diese Möglichkeit ließe auch Großbritannien die Türe für eine Volksabstimmung und das dann zu erwartende Nein offen: Es gilt in Brüssel als offenes Geheimnis, dass die Regierung in London bei einem irischen Nein schon aus Überlebensgründen auch eine Abstimmung ansetzen müsste.

  • „Europa neu denken“ ist die radikalste Antwort auf ein Nein. EU-Kommissionschef José Manuel Barroso meinte vor einigen Monaten, ein Nein würde es nötig machen, die gesamte EU infrage zu stellen. Diese Variante würde vor allem bei den EU-Gegnern großen Anklang finden und zeigen, dass Volksentscheide auch ernst genommen würden. Auch diese Möglichkeit läuft auf ein Europa der zwei oder noch mehr Geschwindigkeiten hinaus, wie es ja beim Euro und bei Schengen schon existiert.

    Frankreich und Deutschland würden wohl den Kern einer „neuen EU“ bilden, und daneben gäbe es verschiedene Stufen der Integration. Der Nachteil dieser Lösung: Langer Stillstand und endlose interne Diskussionen würden die EU lähmen, während sich die Welt draußen weiterdreht. Welchen dieser Wege die EU bei einem Nein einschlägt, ist unklar. Klar ist nur, wie die erste Reaktion aussehen wird: „Begrenzte Betroffenheit“ nennt das ein internes Kommissionspapier. (Michael Moravec aus Brüssel/DER STANDARD, Printausgabe, 12.6.2008)