Musizieren unter heiklen Bedingungen: Daniel Barenboim mit seiner Staatskapelle in Buenos Aires.

Foto: Johannes Hepp
In seiner Heimatstadt Buenos Aires wollte er musikalisch das einhundertste Jubiläum des Teatro Colón feiern, fand aber eine Baustelle vor und las der Kulturpolitik die Leviten.


Der Mann kann überall sagen, was er will. In Berlin reicht es gar, wenn er nichts sagt und nur laut denkt, und sein Intendant (Peter Mussbach) muss gehen. In Jerusalem bewährt sich Daniel Barenboim als Brückenbauer zu den Palästinensern und Kritiker seines Staates. Wohl nur er kann es wagen, dort auch Wagner zu spielen.

Und weil er ja auch in Buenos Aires zu Hause ist und dort nicht nur gerade zum Ehrenbürger ernannt wurde, sondern bei Auftritten schon vor dem ersten Ton von einer Woge der Sympathie getragen wird, ist es keine unbotmäßige Einmischung, wenn er den Politikern vom Pult aus eine Standpauke hält und die mit der Nationalhymne unterstreicht. Die seine Landsleute, als hätten sie es einstudiert, ergriffen auch mitschmetterten.

Als das weltberühmte Teatro Colón vor einhundert Jahren in einer Phase prosperierenden Selbstbewusstseins mit Verdis Aida eröffnet wurde, sollte es die europäischen Opernhäuser mit seinem 3500-Plätze-Saal übertrumpfen. In dem Monument einer gerade zu Reichtum gekommenen Nation wurde aber auch die Akustik zu einem vielgerühmten Glücksfall.

Hier hat nicht nur Barenboims Vater die Wiener Philharmoniker unter Richard Strauss gehört, wie er sagte. Er selbst hat auf dieser Bühne als achtjähriges Wunderkind seinen ersten Auftritt gehabt.

Dieses Haus lockte einst die Creme der Opernkultur nach Südamerika. Von Caruso, Callas, Melchior bis Pavarotti und Domingo, von Toscanini, Strauss, Strawinski bis Erich Kleiber und Fritz Busch – die Namen sind Legende. Buenos Aires war ein Fixpunkt in einer wirklichen Weltkarriere.

Arbeit abgebrochen

Über seine musikalische Prägung in Buenos Aires, seine Befürchtungen und Hoffnungen konnte Barenboim heuer allerdings nur in einer unfertigen Baustelle sprechen. Dass die Generalüberholung notwendig war, bestreitet niemand. Dass sie aber mittendrin abgebrochen wurde, trifft die Argentinier. Für das Jubiläum hatte Barenboim in seiner Heimatstadt eigentlich eine konzertante Tristan-Aufführung mit der Berliner Staatskapelle geplant.

Wagner servierten die auf ihrer Südamerikatour gerade aus São Paulo nach Buenos Aires angereisten Musiker zwar auch. Doch aus der Operngala in neu erstrahlendem alten Glanz wurden nur die Meistersinger- und Tristan-Vorspiele nebst Liebestod und Mahlers Fünfter. Und das im Lunapark, wo sonst auch Boxkämpfe stattfinden. Hier musste sich die Staatskapelle mit etwas elektronischer Unterstützung auch gegen die Widrigkeiten der Akustik einer Mehrzweckhalle durchsetzen.

Nach dem Schlussjubel der über 4500 Zuschauer ließ sich Barenboim dann ein Mikrofon geben und traf genau den Punkt, als er den "Verantwortlichen und Unverantwortlichen" eine Standpauke hielt, weil die es nicht hinbekommen hatten, das Teatro Colón fertigzustellen.

Dabei liegt es nicht einmal wirklich am Geld. In einer landestypischen Melange aus politischer Profilierungssucht, wechselnden Stadtregierungen und Opern-direktoren, sich blockierenden Interessengruppen und irgendwo versickerten Millionen ließ ein politischer Renovierungsstopp im Haus mit immerhin 1500 Beschäftigten das Jubiläum platzen. Jetzt wird 2010 anvisiert.

Da feiert Argentinien 200 Jahre Unabhängigkeit und Barenboim sein 60. Bühnenjubiläum. Man dürfte es gerne gehört haben, dass er sich dazu mit dem West-östlichen Divan Orchester und zum Nationaljubiläum mit einer Opernproduktion der Staatskapelle Berlin quasi selbst schon mal nach Buenos Aires einlud. In dem Jahr steht ohnehin die Generalüberholung der Berliner Lindenoper an, und in die Ausweichspielstätte Schillertheater zieht es sowieso niemanden so richtig. Unter den Bedingungen dann einfach mit Sack und Pack nach Buenos Aires zu kommen, ist für den Global Player eine naheliegende Idee.

Wie wohl sich Barenboim "bei sich daheim" fühlt, war nicht nur bei seinen Auftritten im Lunapark und dem (Ausweich-)Teatro Coliseo zu spüren, wo er eben auch Grund hatte, "traurig zu sein", weil nichts funktionierte wie geplant.

Gruß an den Maestro

Dass er hier noch immer zu Hause zu sein scheint, war ihm vor allem anzumerken, als er nach dem ersten Konzert in seiner Tango-Stammkneipe auftauchte. Die hat nichts Teueres, verbreitet vielmehr ihren abgeblätterten Charme mit alten Fotos der Tangolegende Carlos Gardel an der Wand. Als Altstars der Szene neben der Beinartistik eines jungen Latino-Paares mit großer Geste einen Eindruck von der Melancholie dieses argentinischen Lebensgefühls vermittelten, wurde der Maestro begrüßt, als gehöre er zur Familie. Und sang mit Genuss vom Platz aus alles mit, was überlaut von der Bühne dröhnte. Sein Herzenswunsch und eine "nicht ganz unrealistische Hoffnung" sei es jedoch, 2010 wiederzukommen. Dann aber wirklich ins Tetro Colón. (Joachim Lange aus Buenos Aires / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13.6.2008)