Der galizische Autor Bruno Schulz erfand im Alleingang die Moderne – aus dem Geist des Moders und der knackenden Holzböden.

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Die ungeheuerliche Prosa des polnischen Autors Bruno Schulz (1892–1942) ist in Wahrheit ein Skandal. Schulz, der als Gymnasialprofessor im galizischen Kaff Drohobycz Kinder zum Ziehen gerader Linien verdonnern musste und der als anschlussloser Weltautor naturgemäß an erzwungener Untätigkeit litt, schützt in seiner Erzählsammlung der Zimtläden autobiografische Interessen vor.

Man kann Schulz’ Prosastücke auf den ersten Blick für Beschwichtigungstexte halten: Der jüdische Provinzintellektuelle, der sich zeitlebens um Übersetzungen seiner Werke in Fremdsprachen leider vergeblich bemühte und in Joseph Roth einen eher lauen Fürsprecher fand, akzeptiert die naturgegebenen Beengungen durch das Schtetl-Milieu.

Schulz erzählt, wie sein Gott-Vater, der im eigenen Haus die Eier fremder Paradiesvögel ausbrüten lässt und vor den Laufkunden Stoffballen wie Bibellandschaften entrollt, langsam dem Wahnsinn anheimfällt. Schulz ist der getreuliche Chronist einer umstürzenden, einer ins Herz des Judentums zielenden Irritation: In den Zimmerecken hausen die Mucken. Böden, die aufgrund ihrer schlechten Verfugung ächzen, schwitzen Wahngebilde aus.

Schulz ist, wenn man möchte, ein Heimatautor. Er gibt treuherzig vor, seiner Lebenswelt gerecht zu werden, indem er ihre unscharf gewordenen Konturen auf Papier niederlegt. Der Sohn eines früh verstorbenen Tuchhändlers lenkt den Blick nach innen: Er lauscht dem Klangwispern der Tapeten nach. Er sieht den fettigen Kletten beim Wachsen zu. Er erkennt in den aufschießenden Pflanzen fruchtbarer Gärten "wahnsinnige" Weiber, die ihre Röcke über die Köpfe werfen. Schulz’ Kosmos reicht gerade ein paar wenige, schattige Gassen weit: Es ist ein aus lauter Satztürmen erbautes Universum. Es hält nur so lange wie die "Oleandersträuche", die der Autor – wie ein aus der Art geschlagener Götterlehrling – aus Staubflusen und Schimmelpilzsporen hastig zusammenbaut.

Surrealist wider Willen

Schulz ist der ungeheuerlichste von allen: Seiner Hochstapelkunst ist kein Surrealist gewachsen; seinen parfümierten, vor Adjektiven schier auseinanderbrechenden Sätzen gebietet kein "rationales" Programm einen Halt. Dieser Autor ist ein Lauschangreifer in den vermufften Gefilden der Gärten und Kammern: Er sieht den Kakerlaken zu, wie sie aus den Bodenritzen herausschießen. Er sieht unentwegt Augen, deren weiße Pupillen den Blick des "Anderen" unheilvoll verweigern – das konstitutive Scheelen fremder Übermacht. Schulz erzählt im Modus des Monologs. Man könnte ihn, das Geheul des Wahnsinns im Ohr, sogar für einen moderaten Idylliker halten. Aber es liegt nichts Besänftigendes in dieser Kunst, die wildfremde Landstreicher beim Kacken im Garten betritt und ihren atemlosen Irrsinn immer wieder mit Proben vergeblicher Vernunft zu ziselieren versucht.

Es herrscht in diesen Miniaturen ein geradezu auf Albernheit gestimmter Ton vor. Dieser Prosa, die wie besinnungslos Satzkaskaden auftürmt, die dem Knarren galizischer Bodenleisten selbstvergessen nachlauscht und im Brüllen des Föhnwinds das Gliederstrecken böser Naturgottheiten getreulich wahrnimmt, liegt, wie ein gefrorener Posthornton, ein Untergangsmotiv zugrunde: Dies alles, bedeutet der Seher Schulz, wird es in Bälde nicht mehr geben. Der Gymnasiallehrer studierte eine Zeit lang in Wien Architektur. Er musste für die Rote Armee schuften – und als er, zu Frondiensten für die Nazis gezwungen, einem Gestapomann nicht zu Gesicht stand, schoss ihn dieser auf der Straße kurzerhand nieder.

In den Zimtläden, die 1933 auf Polnisch erschienen und sofort Furore machten, findet daher der denkbar radikalste Bruch mit der Moderne statt – wenngleich deren Mittel zusammengerafft und wie durch ein Filtertuch hindurch geäfft werden. Schulz, der Provinzler, packt das Gespenst der Moderne noch einmal bei den Hörnern.

Aber was bedeutet "Moderne" in diesem verstörenden Kontext? Der Dichter als Einzelgänger erklärt seine engste, kleinstädtische Umgebung zur Probierstube für noch nie gesehene literarische Verfahren. Er erhebt ausgerechnet Schneiderpuppen zu Zeugen einer wilden, skandalös aufbegehrenden Rede wider die Schöpfung. Sie tönt aus dem Mund des (erfundenen) Vaters: Aus der Abgestandenheit vergessener Zimmer soll ein Wust an proteischen Formen entstehen, die, unhaltbar wie sonst nur Spinnwebfäden, die Flora und Fauna um noch nie dagewesene Spezies bereichern. Schulz, die apokryphen Schöpfungsmythen einer "unsauberen" Kosmogonie im Rücken, ist Alchemist. Er "weiß" mehr, als er jemals verrät.

Ihm ist nun mit der Neuübersetzung der Zimtläden durch die großartige Doreen Daume ein kostbares Geschenk zuteil geworden: Dieser Text bemüht sich mustergültig um vermeintlich ephemere Zusammenhänge wie Vokalfärbungen und bewusst eingesetzte "Satzrythmusstörungen". Das jahrzehntelang vergessene Genie Bruno Schulz ist wieder (neu) lesbar geworden: als skandalöser Pfahl im Fleisch der zeitgenössischen Betulichkeitsprosa. (Ronald Pohl, ALBUM/DER STANDARD, 14.06/15.06.2008)