Schlachtenbummler Wilhelm Molterer und Lech Walesa vor dem EURO-Match Österreich-Polen in Wien: Spieler und Trainer sind gleichermaßen für die Zukunft Europas verantwortlich, lautet der gemeinsame Befund.

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STANDARD: Warum kann Europa bei den Bürgern nicht annähernd eine Begeisterung hervorrufen wie der Fußball? Liegt's an den Spielern oder an den Trainern?

Walesa: Ein bisschen an beiden. Wir dürfen nicht vergessen, dass Europa eine Menge Konflikte erlebt hat. Wir beginnen jetzt ein Zeitalter des Friedens, aber ein latentes Misstrauen ist geblieben. Klar erkennbare Strukturen fehlen. Die neuen osteuropäischen EU-Mitglieder sind in die alten Strukturen eingetreten, die letztlich noch aus der Teilung resultieren. Und die sind für die heutigen Probleme nicht geeignet. Ein Land ist gerade erst Mitglied und kann schon die EU sprengen. Es gibt keine Anpassungsfrist.

Molterer: Eine Probezeit ...

Walesa: ... dass man also Jahr für Jahr mehr Mitbestimmungsrecht erwirbt.

STANDARD: Strukturen sind das eine, die Stimmung etwas anderes. Ist es nicht so, dass es einfach an europäischem Engagement fehlt, dass den meisten Akteuren in der EU ihr nationales Hemd näher ist als der europäische Rock?

Molterer: Es sind meiner Meinung nach zwei Phänomene. Erstens: Europa wird mir viel zu viel aus der Vergangenheit heraus begründet, aus der Erfahrung von zwei Weltkriegen. Und ein Großteil unserer Bevölkerung, die Jungen und die im mittleren Alter, haben diese Erfahrungen nie gemacht, für die ist das selbstverständlich. Europa muss seine Begründung in der Zukunftsperspektive finden. Und das Zweite: Es mangelt in den Mitgliedstaaten, da nehme ich keinen einzigen aus, an der Bereitschaft, mehr europäisches Recht, mehr europäische Regelungen zu schaffen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Molterer: Migration und Asyl – das wird nur mit europäischen Regelungen funktionieren. Und das darf nicht, wie derzeit, als Schwächung der Mitgliedstaaten verstanden werden, sondern als Stärkung des gemeinsamen Ganzen. Beispiel Arbeitszeitrichtlinie: Jetzt haben wir uns auf Mindeststandards geeinigt. Österreich ist besser als die Mindeststandards. Wenn ich aber Mindeststandards will, ist es logisch, dass die nicht auf dem Niveau aufbauen, das Österreich schon hat. Eine klare Werte-Orientierung in der Europäischen Union noch viel stärker anzusprechen, ist ein Teil unserer Verpflichtung. So gesehen geht's um Spieler und Trainer. Und der feine Unterschied zum Fußball: Es darf keine Zuseher, sondern nur Spieler geben.

Walesa: Was uns alle behindert ist, dass wir nicht dieselbe Entwicklung durchgemacht haben. Die Menschen verhalten sich wie unterschiedliche Wasserbehälter. Wenn der Niveauunterschied zu groß ist, gibt es einen Niagarafall. Europas Aufgabe ist es, die Niveaus auszugleichen, natürlich nach oben.

STANDARD: Wenn wir beim Vergleich mit dem Fußball bleiben: Ist Europa deshalb so wenig spannend, weil es keinen Feind hat?

Walesa: Ganz genau. Aber das Fehlen von Strukturen, Plänen und Programmen ist auch ein Feind. Das Leben mag keine Leerläufe. Wo ein Vakuum ist, machen sich Kriminalität und jegliches Böse breit.

Molterer: Es gab Krieg, und dann gab es den Kommunismus, das waren die Feinde. Aber es wäre doch pervers zu sagen, wir brauchen Krieg oder den Kommunismus, damit wir Europa wieder begründen. Aber natürlich gibt es Gegner im Sinne von Herausforderungen, denen gegenüber Europa Stellung beziehen muss. Wie Europa etwa auf die Globalisierung reagiert, ist eine entscheidende Frage seiner Stärke: Wie mache ich die Globalisierung von einem, zugegeben, da und dort bestehenden Problem zu einer Chance. Und eine Struktur, die ausschließlich von einem äußeren Feind lebt, ist in Wahrheit nicht dauerhaft lebensfähig, weil sie sich nie aus sich selbst heraus rechtfertigt.

Walesa: Da sind wir fast einer Meinung...

Molterer: ... Brüder im Geiste. Worüber wir aber viel mehr diskutieren müssen: Wo liegt unser gemeinsames Ziel? Was ist eine gemeinsame Wertebasis? Vor dieser Diskussion hat sich Europa in Wahrheit gedrückt. Wir diskutieren über den Vertrag als Arbeitsgrundlage, aber über die gemeinsame Zielsetzung diskutieren wir viel zu wenig.

STANDARD: War es, mit Blick auf das irische Referendum, nicht doch ein Fehler, so viel in den Reformvertrag hineinzupacken, statt eine relativ kurze, eher feierliche Verfassung zu formulieren und dann EU-weit darüber abstimmen zu lassen, mit entsprechender Vorbereitung und leidenschaftlicher Debatte?

Walesa: Wir haben alle festgestellt, dass wir möglichst rasch besser funktionierende operative Strukturen brauchen. Falls dies mit dem Lissabon-Vertrag nicht geht, gibt es nur eine einzige Lösung: Eine Gruppe von Staaten sagt: Wir machen einen neuen Verein mit strikten Regeln. Wer sie akzeptiert, ist herzlich willkommen, wer nicht, eben nicht. Und das Mitspracherecht richtet sich nach der Länge der Zugehörigkeit.

STANDARD: Also das vieldiskutierte Kerneuropa mit konzentrischen Kreisen. Eine ernsthafte Alternative für Sie, Herr Vizekanzler?

Molterer: Wir haben dieses Konzept ja schon – zwei Beispiele sind Schengen und die Euro-Zone. Aber das Ziel lautet doch: Alle sollen an den Politiken teilnehmen. Daher kann das, wenn überhaupt, nur ein Zwischenschritt sein. Das Ziel muss ein integriertes Europa in allen Politikbereichen sein. Ich sehe das wiederum mit einem Vergleich zum Sport, diesmal zum Eiskunstlauf: Lissabon ist so etwas wie die Pflicht, aber die Wertung wird im Wesentlichen von der Kür bestimmt. Es braucht darüber hinaus Perspektiven in den großen Zukunftsfragen – gegenüber Russland, gegenüber China, in der Klimapolitik und vieles mehr. Und zur Referendumsfrage: Ich bin für ein europäisches Referendum. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass die Spielregeln möglicherweise dazu führen, dass eine gesamteuropäische Mehrheit stärker wiegt als eine nationale Gegenmehrheit. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.6.2008)