Ein Thron, umweht von den Zeichen der Zeit: Maria Theresia, mitten in der Fanzone.

Foto: STANDARD/M. Cremer
Hierzulande wird die Erinnerung nicht dem Zufall überlassen. Werden die Wiener Sängerknaben herbeigerufen, sind Gäste nicht weit. Man wirft die Geschichtsprojektoren an. Das Echte wird ausgespart, stattdessen kursieren Ansichten, Bilder von Bildern. Inszenierung, wohin das Auge reicht. Auf der vom städtischen Verkehr geleerten Fanmeile zwischen Heldenplatz und Rathaus ist Raum geschaffen für Public Viewing. Der Welt größter Schrebergarten befindet sich in Wien. 3100 Meter mobiler Zaun und 970 Meter historischer Zaun begrenzen ihn. Er liegt in imperialer Landschaft, sein Gärtner ist der Welt dankbarster Gastgeber.

Die Republik definiert sich durch den Wiedererkennungswert ihrer historischen Schablonen und spannt den Kaiser vor die Lippizaner. In ihren Feierlichkeiten liegt unklare Bedeutungsfülle, so schwenkt man dieser Tage Fähnchen aus der Popkornpackung und intoniert die offizielle Hymne des Österreichischen Fußballbundes, "Wir haben Fieber, komm, fieber mit ... du bist mitten drin. Merkst du, dass grad was Großes passiert?" Täglich rechnen wir mit dem Ausbruch simultaner Emotionen.

Maria Theresia ...

Trommelwirbel brausen auf, die Tauben flüchten in die Donauauen. Unter Applaus steigt Maria Theresia von ihrem Thron und spaziert über die Ringstraße, hinter ihr jagt Feldmarschall Radetzky herbei, überholt die behäbige Monarchin und verschwindet in den Parkanlagen. An diesem lauen Junitag schüttelt Prinz Eugen die Locken und defiliert vor einer halben Million Zuschauern. Kaiser Maximilian geht als der von Dürer gemalte Kaiser Maximilian spazieren, man jubelt ihm zu.

Der Mann bleibt regungslos, bewahrt die Pose im Gedächtnis der Betrachter. Die Geschichtsbücher der Monarchie schlagen sich auf, ihre Bilder stürzen auf die Straße. Franz Josef steht unter einem Baldachin, die Füße tun ihm weh, aber nun kommen erst die Völker daher. Dem Kaiser gefällt's, eben hat er 60 Jahre Regierungszeit hinter sich gebracht. Nun rinnt Volksliedgut über die Ringstraße, man sieht Erntewagen, Schnitterfeste und Hofjagden, den Salzburger Glöckerlauf und schlesische Reigentänze. Zwischendurch singt der Sängerbund, und Franz Josef steigt von einem Fuß auf den anderen, die Gesellschaft ist heiter gestimmt.

Nach einer kurzen Pause beginnt das Biedermeier zu promenieren, die gute alte Zeit verneigt sich. In der Vergangenheit und ihrer Pracht zeige sich der Charakter Österreichs, sagt der Wiener Bürgermeister in seiner Festansprache. Die Ouvertüre des neuen Jahrhunderts spielt Ungewisses an, noch schwenken die Untertanen dankbar die Hüte, bald fahren sie ins Feld.

... zwischen den Zeiten

Ein Postkartenmaler steht im Spalier vor dem Heldenplatz, in diesem Jahr noch scheitert er an der Aufnahmeprüfung der Wiener Kunstakademie. Im Aufmarsch zeigt sich Österreichs wahre Kraft, begeistern sich die Kommentatoren der letzten Feier der Monarchie. Nach drei Stunden ist die Angelegenheit beendet, erleichtert schlüpft der Herrscher in die Pantoffel.

12. Juni 1908. Ein schöner Tag.

Kaiserin Maria Theresia hat wieder auf ihrem Thron zwischen den großen Museen der Stadt Platz genommen. Die Tauben sitzen ihr am Schoß, zu ihren Füßen trinkt man Kaffee, kann sich im Schatten der dressierten Buchsbäume erholen. Wenige Meter entfernt werden Leute durch die Vereinzelungsschleusen der Fanmeile getrieben. Lautsprecherboxen machen Sound, die Menge schaukelt sich auf, Torschussanlagen, Fußball-Rodeo und Riesenwuzler mit an Stangen festgebundenen Spielern bieten unvergessliche Momente.

Vormittags werden nach Erlass des Wiener Stadtschulrats Schulklassen zu den hypen Ständen der Sponsoren geführt. Die suchen Aufmerksamkeit, um an der Erinnerung teilzuhaben, ihre Logos sind mannshoch, Ornamente des Erfolgs. Nebenbei finden die Kämpfe der Nationen auf den Projektionsflächen statt, Rituale mit Gesang und Trophäe, Sieg und Niederlage, glücklichen und gescheiterten Helden.

Wer weiß, wohin er gehört, lässt sich Farben an die Stirn pinseln und freundet sich mit seinesgleichen an. Die Stadt ist mit Menschenbildern zugemüllt, mobile Filmcrews zaubern Unbekannte auf die Leinwände, Gesichter werden entdeckt und wieder vergessen. Um einen guten Platz in der medialen Wahrnehmung zu bekommen, ist Originalität gefragt. So liegt die Meisterschaft nicht in der Bedeutung der Geschehnisse, sondern in der gelungenen Erinnerung daran.

"Von diesem Moment werden wir noch lange sprechen", prophezeit die Sängerin Christina Stürmer. Maria Theresia wird etwas müde, sie schließt die Augen, hat nicht viel vor. Vielleicht geht sie Ende dieses anstrengenden Monats zu dem Galakonzert in den Schönbrunner Schlossgarten, dem kulturellen Highlight der EURO 08. Dort würde sie nicht weiter auffallen, schließlich hat sie dort gewohnt. (Marion Wisinger/DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.6.2008)