Unterschiedlicher könnten die Stimmungen nicht sein. Als Spaniens Nationalmannschaft kurz vor der EURO das letzte Vorbereitungsspiel gegen die USA absolvierte, war von Begeisterung nichts zu spüren. "Höchstens Viertelfinale", "Wir kommen nicht einmal über die Vorrunde hinaus", lauteten die Standardkommentare der Fußballinteressierten. Die Elf, die der betagte Trainer Luis Aragonés zusammengestellt hat, wollte niemanden überzeugen. Starspieler wie Real Madrids Raúl fehlen, dafür durften junge Kicker nach Österreich und die Schweiz mit.

An sich eine gute Sache, wäre das Team nicht aus "Verliererclubs" zusammengesetzt. Zaragoza kämpft gegen den Abstieg. Valencia spielte diese Saison in der Liga so schlecht wie schon lange nicht. Und der FC Barcelona brach am Ende der Spielzeit regelrecht ein. Dann kam das EM-Debüt. Spanien putzte Russland mit 4:1 vom Platz.

Plötzlich haben es in den Madrider Bars wieder alle gewusst. "Mit der Mannschaft kommen wir ins Finale", ist nun zu hören. Es ist eine der typischen Stimmungsschwankungen, wie sie jeder kennt, der länger in Spanien lebt.

Bei der WM in Deutschland war es genauso. Die junge spanische Mannschaft spielte in der Vorrunde gekonnt auf. "Sí, sí, sí, vamos a Berlin!"("Ja, ja, ja, wir fahren nach Berlin!"), hieß einer der Slogans. "A por ellos!", ("Auf sie mit Gebrüll!") ein anderer. Das Land war wie verwandelt. Allerorts gab es Großbildschirme, die Kids entdeckten das Nationaltrikot und die Fahne. Doch dann scheiterten die Spanier wieder einmal im Viertelfinale, und alles war vorbei.

Beschämt über den Taumel

Schnell kehrten alle der Nationalmannschaft den Rücken - fast schon beschämt darüber, sich dem Taumel hingegeben zu haben. Denn eigentlich mag der spanische Fußballfan nur seinen Verein, die National-Elf mag er nicht. Er traut ihr nichts zu. Jeder weiß von Durchfallerkrankungen, die die Spieler im letzten, alles entscheidenden Augenblick schwächten. Oder von eisiger Kälte irgendwo im Osten, die die Qualifikation erschwerte. Alle erinnern sich an jenen nigerianischen Kullerball, den 1998 Nationalkeeper Zubizarreta mit der eigenen Hand zum Tor verwandelte. Was die spanischen WM-Träume schon in der Vorrunde platzen ließ. Oder an jenen Elfmeter, den Real-Madrid-Star Raúl bei einem EM-Viertelfinale über das Tor schoss.

Doch die traditionell fehlende Begeisterung hat nicht nur mit mangelnden sportlichen Erfolgen zu tun. Es ist auch ein politisches Problem. Zwei der wichtigsten Fußballregionen des Landes - Katalonien mit dem FC Barcelona und das Baskenland mit Atletic de Bilbao - identifizieren sich nur bedingt mit Spanien als Ganzem. Hier sind Nationalismus und Streben nach Unabhängigkeit stark. Ein Länderspiel könnte in keiner der beiden Regionen ausgetragen werden. Proteste wären programmiert. Und auch im restlichen Spanien sind nationale Symbole wie Fahne, Hymne und auch National-Elf mit dem Makel der unrühmlichen Vergangenheit unter der Franco-Diktatur behaftet.

Trotz aller Hochstimmung nach dem ersten Sieg: Tief im Herzen glaubt auch jetzt niemand so recht an einen Erfolg. Nicht einmal Trainer Aragonés. Wie sonst hätte der 70-Jährige in einer Fernsehsendung auf Drängen der Zuschauer verprechen können, im Falle des Titelgewinns mit seiner Frau den Santiago-Weg gehen zu wollen? (Reiner Wandler/DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.6.2008)