Kurz nach dem Vorfall um 23.30 Uhr hieß es in einer Aussendung der Polizei, dass drei Tschetschenen aufeinander losgegangen seien. Ursprünglich war von Jugendlichen im Alter von 14 und 19 Jahren die Rede gewesen - doch diese Angaben bezeichnete eine Polizeisprecherin wenige Stunden später als "falsch". Die Verletzten selber sprachen von Unbekannten, die sie in der U-Bahn angegriffen hätten. Mitarbeiter der Wiener Linien fanden eine im Innenraum blutverschmierte U-Bahn-Garnitur. Bei den Ermittlern sollen sich vorerst auch keine Zeugen gemeldet haben. Mit der EURO, betonte die Polizei, habe der Vorfall nichts zu tun.
Der Vorfall könne dazu dienen, tschetschenische Asylwerber einmal mehr in schlechtem Licht darzustellen, befürchtet jetzt Michael Genner vom Verein "Asyl in Not". Vorkommnisse wie diese kämen rasch in die Schlagzeilen, nicht aber die Hintergründe dafür.
"Schwer traumatisiert" "Alle, die den Krieg in Tschetschenien erlebt haben, sind schwer traumatisiert. Niemand kommt ohne Schaden von dort davon", betont Genner - unabhängig davon, was in der U-Bahn-Station genau passiert sei. Die Betroffenen bekämen meist keinerlei psychotherapeutische Betreuung: "Sollten die Verletzten aggressiv geworden sein, ist das traurig und schrecklich. Aber dass sie keine psychologische Betreuung bekommen, ist der eigentliche Skandal."
Als "schwerst traumatisierten" Menschen beschreibt auch Anwalt Lennard Binder die tschetschenischen Asylwerber. Binder vertritt rund 40 Flüchtlinge - hauptsächlich in fremdenrechtlichen Belangen. Unter seinen tschetschenischen Klienten habe er bisher keinen einzigen wegen eines Gewaltdelikts gehabt.
Die Kriminalitätsstatistik zeichnet folgendes Bild: Während im Jahr 2006 in der Gesamtbevölkerung auf einen Verdachtsfall wegen des Verstoßes gegen die "Sicherheit von Leib und Leben" fünf Verdachtsfälle wegen Eigentumsdelikten kamen, betrug das Verhältnis bei "Staatsangehörigen der russischen Föderation" drei zu eins.
"Zermürbende" Verfahren
Für Genner stecken hinter diesen Zahlen Menschen, die aus einem Kriegsgebiet kommen und in Österreich die Schubhaft und oft jahrelange, "zermürbende" Asylverfahren erleben. Das alles führe "unter Umständen zu Reaktionen, die nicht erwünscht sind". Deshalb sei psychologische Betreuung so wichtig, doch diese würde derzeit "nur" von Vereinen durchgeführt, die damit "völlig überfordert" seien. Für die Betroffenen der Tsunami-Katastrophe habe am Flughafen bei der Rückkehr ein Team von Psychologen gewartet. Das sei gut und richtig gewesen. Für Menschen, die "nur Krieg kennen", solle es diese Hilfe auch geben. (Irene Brickner, Gudrun Springer, DER STANDARD Printausgabe, 17.6.2008)