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Toni Graf-Baumann (62) ist Facharzt für Anästhesie, Schmerzmediziner und Geschäftsführer der Deutschen Schmerzgesellschaft. Als Mitglied der medizinischen Kommission der FIFA und Vorsitzender der FIFA-Doping-Kommission weiß er um die Dynamik im Fußball und generell im Mannschaftssport Bescheid. Graf-Baumann war zudem auch Präsident der badischen Verbandsligamannschaft FC Emmendingen.

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Hans Holdhaus (63), Sportwissenschafter mit Fachgebiet Physiologie, ist Leiter des Instituts für medizinische und sportwissenschaftliche Beratung im Olympiazentrum Südstadt und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats von Top Sport Austria (Spitzensportförderung). Seine Schwerpunkte: Leistungsdiagnostik und Trainingssteuerung. Holdhaus ist seit 1988 wissenschaftlicher Betreuer des Olympia-Teams.

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Schon im Viertelfinale von Meisterschaften sind Fußballer körperlich so überfordert, dass sie ohne Schmerzmittel nicht mehr spielen können, behauptet der deutsche Sportmediziner Toni Graf-Baumann. Stimmt, sagt sein österreichischer Kollege Hans Holdhaus. Das Gespräch über Schmerzmittelmissbrauch moderierte Karin Pollack.

STANDARD: Sie prangern den Schmerzmittelmissbrauch im Fußball an. Wer nimmt wann welche Medikamente ein?

Graf-Baumann: Ich prangere das generell im Spitzensport an. Im Fußball haben wir aber seit 1996 konkrete statistische Daten und wissen, dass die meisten Fußballspieler Schmerzmittel in hohen Dosierungen über lange Zeit einnehmen.

STANDARD: Welche Medikamente?

Graf-Baumann: In erster Linie werden Diclofenac - zum Beispiel Voltaren -, Ibuprofen oder Aspirin in bedenklich hohen Dosierungen gegen Muskelschmerz eingenommen.

STANDARD: Was sind das für Schmerzen?

Graf-Baumann: Es handelt sich um eine Überforderung der Muskulatur durch zu viel Training und Wettbewerbe und zu geringe Regenerationszeiten dazwischen; es geht nicht um Verletzungen - in diesem Fall werden die Sportler ja von Ärzten behandelt. Gerade bei einer Meisterschaft sind die Sportler ab dem Viertelfinale eigentlich überfordert. Wir haben bei der WM in Deutschland eruiert, dass von sechs Mannschaften jeder Spieler jeden Tag drei Voltaren eingenommen hat. Das ist dokumentiert.

STANDARD: Ist das auch in Österreich die Praxis?

Holdhaus: Bedauerlicherweise ja. Ich kann mich auch an eine Dopingkontrolle erinnern, im Zuge derer bei Nachfragen nicht angegeben wurde, dass Schmerzmittel eingenommen wurden. Das hängt generell mit dem lockeren Umgang mit Medikamenten in unserer Gesellschaft zusammen. Man kann all diese Medikamente ja problemlos kaufen. Die Sportler nehmen das überwiegend präventiv ein und sind sich möglicher Konsequenzen gar nicht bewusst. Das ist per definitionem Medikamentenmissbrauch, der bei Mannschaftssportarten wie Fußball, Handball oder Eishockey gängige Praxis ist.

STANDARD: Was kann schlimmstenfalls passieren?

Graf-Baumann: Nichtsteroidale Antiphlogistika wie Voltaren können massive Nebenwirkungen auf den Magen-Darm-Trakt haben und in lebensgefährlichen Magenblutungen enden. Mittlerweile gibt es zwar Präparate mit Magenschutz, doch Schmerzmittel sind auch für Nieren und Leber giftig, wenn sie über einen langen Zeitraum in hohen Dosen eingenommen werden. Der deutsche Fußballer Ivan Klasnic brauchte eine Nierentransplantation. Schmerzmittelmissbrauch kann auch in der Dialyse enden.

STANDARD: Warum bemerken es Teamärzte nicht?

Holdhaus: Weil die meisten Sportler diese Medikamente aus eigener Initiative einnehmen und hoffen, dass es hilft. Und irgendwann nehmen sie sie dann prophylaktisch. Leider werden sie oft sogar von Teamärzten prophylaktisch verschrieben. Das stört mich schon sehr. Ich finde, da gäbe es wirklich Potenzial für Selbstkritik. Eine Schmerzprophylaxe halte ich für vollkommen unsinnig, denn Schmerz ist ein Symptom, das auf etwas hinweist. Es ist also total widersinnig, solche Warnsignale des Körpers auszuschalten. Damit nimmt man sich die Möglichkeit, Ursachen herauszufinden.

Graf-Baumann: Schmerz ist immer ein Warnsignal.

Holdhaus: Es ist ja auch kein Zufall, dass Schmerzmittelmissbrauch in den Mannschaftssportarten und besonders im Fußball auftritt. Die betreuenden Ärzte kommen zum überwiegenden Teil aus den Fachbereichen Orthopädie und Traumatologie - sind also keine Internisten, und deshalb wird der internistische Part der ärztlichen Betreuung vernachlässigt. Ich würde mir wünschen, dass die Betreuungsteams stärker multidisziplinär arbeiten und ihren Fokus nicht ausschließlich auf die Behandlung von Verletzungen richten.

Graf-Baumann: Wir haben im Weltfußballverband Erfahrungen mit einer unzureichenden internistisch-kardiologischen Versorgung der Fußballer gemacht. Es gab immer wieder plötzliche Todesfälle. Deshalb haben wir die verbindliche sportkardiologische Untersuchung für jeden Weltmeisterschaftsteilnehmer eingeführt. Das haben die Mannschaften und Spieler auch kapiert. Beim Schmerzmittelmissbrauch ist die Lage aber anders. Wir haben gerade eine Studie zusammen mit der Sporthochschule Köln begonnen: Es scheint eine generelle Kritiklosigkeit, was die Verwendung von Medikamenten betrifft, zu geben.

Holdhaus: Mich erinnert die Diskussion an das Problem, das wir mit Nahrungsergänzungsmitteln hatten. Dahinter stehen meist Marketingkonzepte, die suggerieren, wie wichtig die Einnahme eines Medikaments für Leistungsfähigkeit und Training ist. Laien glauben es mangels Fachwissen.

Graf-Baumann: Die schlimmste Aussage aus der Werbung ist "schmerzfrei".

STANDARD: Ist die Einnahme von Schmerzmitteln nicht Doping?

Graf-Baumann: Nein, denn die Wirksubstanz in Schmerzmitteln hat ja keinen leistungssteigernden Effekt. Wenn ein Sportler Schmerzmittel nimmt, dann will er ja seine verminderte Leistungsfähigkeit ausgleichen, um die normale Leistung erbringen zu können. Eine andere Art der Betrachtung wären die der Trainingsgrenzen. Wenn ich an meine Limits gehe, reagiert der Körper mit Schmerz. Wenn ich den Schmerz unterdrücke, um meine Leistungsgrenze nach oben zu verlagern - und das unter Inkaufnahme von Nebenwirkungen -, ist das definitorisch aber auch kein Doping. Die Problematik bei Schmerzmitteln ist anders. Wir müssen über Aufklärungskampagnen überhaupt erst einmal ein Bewusstsein schaffen - bei Athleten und bei ihrer Entourage.

STANDARD: Spitzensportler dürfen sich einfach keine Schwächen leisten.

Graf-Baumann: Athleten sind wie Rennpferde, an die von ihrem unmittelbaren Umfeld höchste Anforderungen gestellt werden. Da wird wenig gefragt. Jeder im Spitzensport muss einsatzfähig sein, egal wie. Alle paar Jahre meint Beckenbauer dann, dass die Fußballer überfordert sind und man im Sinne längerer Regenerationszeiten den Fußballkalender ändern müsse, aber in Wirklichkeit interessiert das doch keinen Menschen, und es passiert auch nicht.

Holdhaus: Der Druck ist enorm. Management und Trainer nehmen viel zu wenig Rücksicht auf die Gesundheit der Spieler. Das geht so weit, dass ein nachweislich verletzter Fußballer spielen muss, weil der Trainer der Meinung ist, dass, selbst wenn der Verletzte nur 80 Prozent der Leistung bringt, er noch immer besser als ein Ersatzspieler ist. Er denkt nicht daran, dass er damit die Gesundheit des Spielers schädigt. Man müsste daher mehr aufklären und warnen. Die meisten Trainer, aber auch die Athleten wissen über die Gefahren und Nebenwirkungen von Substanzen nicht Bescheid.

STANDARD: Welche Maßnahmen könnte man setzen?

Holdhaus: Medikamente im Sport sind ein interessantes Thema und durchaus ein Symposium wert. Mediziner im Sport haben eine Verantwortung, und die beginnt nicht erst bei der Therapie, sondern durchaus in der Prävention. Gäbe es dieses Bewusstsein, so würde sich das auch automatisch in Trainingslagern weitergeben lassen. Sensibilisierung ist der Schlüssel. Man muss über die Nebenwirkungen reden, und zwar direkt und immer wieder. Bisher tut das niemand. Die ganze Sache beginnt ja bereits bei den Jugendlichen, denn die übernehmen unkritisch, was die Älteren ihnen vormachen.

STANDARD: Welche Alternativen gäbe es zu Medikamenten?

Graf-Baumann: Zunächst braucht jeder Schmerz eine Diagnose. Muskelschmerz ist zu diffus. Nur wenn man die Ursache kennt, kann man die richtige Therapie finden. Schmerzmittel können Teil dieser Therapie sein. In den USA haben sich die sogenannten "athletic trainers" genau darauf spezialisiert. Sie arbeiten präventiv.

Holdhaus: Und dementsprechend könnten dann Trainingspläne adaptiert werden.

Graf-Baumann: Es gibt gute muskuläre Behandlungstechniken, eine davon ist zum Beispiel die myofasziale Technik, die unglaublich wirksam ist. Sie sind aber zeitintensiv. Eine Tablette einwerfen ist halt leider leichter.

Holdhaus: Der Muskulatur muss gerade im Fußball mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, denn Muskeln haben ja auch eine wichtige Schutzfunktion. In den USA hat man das längst erkannt.

STANDARD: Eine letzte Frage: Wenn Spieler sich auf dem Feld in Schmerzen winden - was machen die Ärzte, die dann aufs Feld eilen?

Holdhaus: Zuerst klären sie ab, ob es eine schwerwiegende Verletzung, also etwa ein Bruch, ist. Wenn das nicht so ist, ist der Rest psychologische Hilfe und manchmal ein Vereisungsspray. Damit nimmt die Kälte zumindest oberflächlich den Schmerz. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.6.2008)