"Jedes Jahr vor und nach der Zeugnissaison kommt es unter Schülern zu Angst und Verzweiflung, vor allem unter Jugendlichen zu Suiziden", warnt der Wiener Kinder- und Jugendneuropsychiater Ralf Gößler.

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Jährlich bringen sich rund 1300 Österreicher um. Das sind mehr, als bei Verkehrsunfällen sterben. Nach Unfällen stellen Suizide bei Jugendlichen die zweithäufigste Todesursache dar. Auch wenn diese Zahlen erschrecken, erklärt Christian Haring, Primar am psychiatrischen Landeskrankenhaus Hall in Tirol und Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention, so könne man seit Jahren eine Abnahme von Suizidfällen beobachten. "Nicht zuletzt deshalb", so Haring, "weil Aufklärung, Präventionsmaßnahmen und auch die Anzahl und das Angebot psychosozialer Einrichtungen immer besser werden."

Der Tiroler Psychiater: "Es gibt sehr große Unterschiede zwischen Mädchen und Burschen." Hochgerechnet auf 100.000 Einwohner, nähmen sich in Österreich jährlich zwischen fünf und 15 Burschen das Leben, bei Mädchen seien es zwei bis vier.

Suizidversuche als Hilferuf

Die Zahl der registrierten Suizidversuche von Jugendlichen sei etwa zehnmal so hoch wie die der vollzogenen Selbsttötungen, die vermutete Dunkelziffer sogar hundertmal so hoch. Interessant dabei sei, dass bei Versuchen, die als Hilferuf gewertet werden, die Mädchen vorn lägen. In einer Studie über Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren habe sich gezeigt, dass neun Prozent der befragten Burschen und 18 Prozent der Mädchen bereits wenigstens einmal eine suizidale Handlung unternommen hätten.

Zur Suizidstatistik gehören nicht nur Zahlen, sondern auch saisonale Häufungen. Eine solche steht Österreich unmittelbar bevor. "Jedes Jahr vor und nach der Zeugnissaison kommt es unter Schülern zu Angst und Verzweiflung, vor allem unter Jugendlichen zu Suiziden. Niemand will etwas bemerkt haben, alle sind bestürzt", erklärt Ralf Gößler, Primar an der Kinder- und Jugendneuropsychiatrie Rosenhügel im Wiener Krankenhaus Hietzing. Dabei würden betroffene Schüler deutliche Signale aussenden. Eltern, Lehrer, Mitschüler und Freunde müssten diese bloß richtig deuten.

Leistungsversagen stelle laut Gößler "in der entwicklungspsychologisch generell instabilen jugendlichen Situation" oft den Auslöser für Krisen dar. Daher solle grundsätzlich "jeder Schüler mit negativen oder für ihn massiv unbefriedigenden Leistungen als Risikoperson gesehen werden".

"Eh alles sinnlos"

Weitere Faktoren, die das Suizidrisiko erhöhen: großer Leistungsdruck des Umfeldes (Eltern, Freunde, Lehrer), wobei hier die Erwartungshaltung entscheidend sei; große Versagensängste mit Schuld und Schamgefühlen, die Angst, das Gesicht zu verlieren; fehlende oder instabile soziale Bezüge (Einzelgänger, Außenseiter) sowie verstärkter Drogenmiss- oder -gebrauch.

Warnsignale

Alarmzeichen, die Schüler in solchen Krisen aussenden, seien laut Gößler ziemlich klar. Das beginne zunächst bei appellativen, destruktiven Aussagen wie etwa "Ist eh alles sinnlos", gehe dann weiter über Unruhe, Gereiztheit und Aggressivität. Hinzu kämen Schlafstörungen, Albträume, sozialer Rückzug und Kontaktarmut sowie Interessenverlust und die Entwertung von Leidenschaften und Hobbys - "dies ist ein klarer Ausdruck von Depression und Resignation", erläutert Gößler.

Am Schluss stehe dann oft eine auffallende Ruhe und Gelassenheit, die nicht zur kritischen Leistungssituation passe. "Hier glauben viele", erklärt der Wiener Jugendpsychiater, "dass endlich eine Entspannung der Situation eingetreten ist, was aber nur selten stimmt." Vielmehr habe der Jugendliche nach einer Phase der Abwägung und Auseinandersetzung für sich den Entschluss zur Tat gefasst, habe möglicherweise Vorbereitungen getroffen und den Zeitpunkt festgesetzt. Er werde sich selbst nicht mehr artikulieren, warte aber auf ein rettendes Zeichen seines Umfelds. "Hier ist äußerste Sensibilität gefragt. Hartnäckiges Nachfragen durch Lehrer, Eltern und Freunde. Der Jugendliche sollte nicht mehr allein gelassen werden", warnt Gößler.

Das Bemerken und Ansprechen eines offensichtlichen Leistungsproblems könne somit erste Hilfe zur Suizidprävention sein. "Hiezu sind sämtliche Personen im sozialen Umfeld eines Jugendlichen aufgefordert", konstatiert Gößler und benennt Eltern, Lehrer und vor allem Freunde. Der persönliche Bezug zum Schüler stelle dabei eine wichtige Ressource dar, das Delegieren des Krisenfalls an Schularzt, Schulpsychologe, Krisenambulanz oder Psychiatrie stelle erst den zweiten Schritt dar. "Das ehrliche Ansprechen allein sorgt häufig für Entlastung."

Beste Hilfe

Darüber hinaus, ergänzt Christian Haring, sollten Eltern und Lehrer den Jugendlichen vermitteln, "dass Psychiater, Schulpsychologen und auch Psychotherapeuten nicht nur für Irre zuständig sind, wie Jugendliche das sehr oft fälschlich glauben, sondern dass sie auch Anlaufstelle in Krisenfällen sind." Gleichzeitig kritisiert der Tiroler Fachmann, dass es in Österreich viel zu wenig Kinder- und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeuten mit einschlägiger Ausbildung gebe. (Andreas Feiertag, DER STANDARD, Printausgabe, 16.6.2008)