Von Buch zu Buch variiert er den Rhythmus der Erinnerung, zu dem die Bilder des Erlebten sich in einem wilden Totentanz drehen: Josef Winkler. Nun wird der Kärntner mit der wichtigsten Auszeich-nung der deutschsprachigen Literatur geehrt – dem Georg-Büchner-Preis.

Foto: Jerry Bauer
Wien – "In Indien sind die Geier fast ausgestorben", schrieb Josef Winkler zu Beginn von Roppongi. Requiem für einen Vater, eine Postkarte zitierend, die er aus Varanasi an einen Dichter-Freund geschickt hatte. "Sie hockten einen Monat lang bewegungslos auf den Bäumen und plumpsten dann – wie Steine – tot zu Boden. Millionen müssen es in ganz Indien gewesen sein. Nur im Bundesstaat Rajasthan soll es noch welche geben." Der Bericht mündet in eine düstere Fantasie: "Ich sage immer: Vor den Dichtern sterben die Geier."

"Es werden ja wirklich immer weniger Dichter. Die ganze Branche fantasiert zur Unterhaltung hin", folgt er seiner Vision im Gespräch mit dem Standard. "Ich glaube, sobald man zu spekulieren beginnt und das Blätterrauschen eines Massenpublikums zu Ohren kriegt, werden in einem schon Möglichkeiten und Stimmen abgetötet. Das sind ständig Eisenwände, die man vor sich aufzieht – und Eisenwände durchbrechen, das möchte ich nicht."

Am Dienstag Vormittag gab die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt bekannt, dass Josef Winkler mit dem Georg-Büchner-Preis 2008 ausgezeichnet wird, der, wie es ein listiger Zufall fügt, in diesem Jahr just am Wochenende des Totengedenkens, am 1. November, verliehen wird.

Einmal mehr hat die Akademie mit Josef Winkler also für einen Dichter in der Nachfolge Georg Büchners votiert, der ohne den Schutz wehrhafter Eisenwände in seinem Schreiben jenen leisen – oder mitunter obsessiv lauten – Stimmen lauscht, die ihm seine Inhalte in der ihm eigenen Formsprache notwendig vor-schreiben. Jene Stimmen, denen die Literatur bis heute ihre unerschöpfliche Vielfalt dankt.

Fern jener verwechselbaren "UNTERhaltung", der der Kärntner im Gespräch mit lustvollem Grimm den literarischen Fehdehandschuh entgegenschleudert: "Was wird heute nicht alles zwischen zwei Buchdeckel gequetscht. Manchmal hätte ich, statt wirklich schlechter Bücher, indische Kuhfladen lieber zwischen zwei Buchdeckeln. Die haben Sinn."

Verstummte Welt

1953 geboren als jüngstes von sechs Kindern einer streng katholischen Bauernfamilie im Weiler Kamering in Kärnten, durchlebte und durchlitt Josef Winkler seine Kindheit in einer Umgebung, in der Der Ackermann aus Kärnten, wie er eines seiner frühen Bücher nannte, dem Wort mit feindseligem Argwohn begegnete. Gesprochen wurde kaum, gelesen noch weniger. Selbst die verstummte Welt der kotverkrusteten Kuhställe, der mit abgehackten Hühnerköpfen durchwirkten Misthaufen, in denen das Wort gemieden wurde als Funke aufrührerischer Gedanken, die das patriarchale Wertgefüge in loderndem Feuer zu Asche brennen, konnte aber, so hat er selbst es immer wieder beschrieben, die Entdeckung der rettenden Sprache durch das Kind nicht verhindern. Karl May, dessen Bücher er als Zwölf- und Dreizehnjähriger mit heimlich vom Sparkassen-Konto abgehobenem Geld kaufte, war einer der ersten Fluchthelfer aus der Enge. Ihm folgten bald Oscar Wilde, Jean Genet, Franz Kafka.

Die Bilder, die das "Kameraauge" Josef Winklers seit frühen Tagen aufgezeichnet hatte, ihre Schrecken und ihre das Leben gefährdende Bedrohung, sie wurden erstmals 1979 literarisch im Wort gebannt, im Roman Menschenkind. Ein Jahr später folgte Der Ackermann aus Kärnten, zwei Jahre darauf Muttersprache. Wie dreihundert Jahre vor ihm Andreas Gryphius sich durch den eben entdeckten Schatz der deutschen Sprache die Alptraum-Szenarien des Dreißigjährigen Krieges aus den Augen der Seele geschrieben hatte, so auch Josef Winkler die Kriege seiner Kindheit.

Wie bei dem protestantischen Pastorensohn Gryphius durchziehen die blutigen Bilder des versehrten Fleisches, der offenen Wunden, der körperlichen Verwesung alles Sterblichen das Werk des "tod-glücklichen Menschen". Und stiften Befreiung. Zerreißen die erstickende Haut des Tabus.

Der Tod ist der (Flucht-)Punkt, von dem aus das Leben in seiner sinnlichen Fülle sichtbar wird. Nicht nur der Ackermann, auch der Friedhof der bitteren Orangen (1990), die römische Novelle Natura Morta (2001), die Sammlung Leichnam, seine Familie belauernd (2003) – tragen ihn im Titel.

Nicht zuletzt die Freude an der selbstverständlichen Einbeziehung des Sterbens in das Leben ist es auch, die ihn immer wieder nach Indien zieht, genauer nach Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges, wo die Inder ihreToten verbrennen, wie er in Domra. Am Ufer des Ganges (1996) beschrieb.

In seinem jüngsten Werk Roppongi. Requiem für einen Vater (2007) kehren viele der Bilder, die er von Buch zu Buch variiert, neu schreibt, umschreibt nach dem wechselnden Rhythmus der Erinnerung, noch einmal wieder: ruhiger, neu gerahmt. Der Vater ist tot. Eine japanische Braut gab ihm Josef Winkler mit auf den Weg. Ein neuer Ton, ein neues Kapitel scheinen begonnen in seinem Werk. Vom Büchner-Preis begrüßt. (Cornelia Niedermeier, DER STANDARD/Printausgabe, 18.06.2008)