Grafik: Games-Meilensteine

Benji spielt derzeit GTA 4 . Und damit ist er beileibe nicht allein. Er hat einen Videobeamer, an den er seine Spielkonsole anschließt. Beruflich strebt Benji Industriedesign an, er geht öfter mit Freunden aus als vor dem Beamer zu sitzen. DER STANDARD war bei ihm zu Hause, um gemeinsam mit ihm und Niko Bellic, einem osteuropäischen Einwanderer und Held von GTA 4, ebenfalls auszugehen. In Liberty City. Im Spiel. Mit Beamer.

Tränen

Wir wollten ins Kabarett, machten davor aber noch einen Abstecher ins Internet-Café und lasen E-Mails von Nikos Mutter (sie hat sehr geweint über Nikos letztes E-Mail). Bevor wir Freundin Michelle abholten, waren wir, na ja, auch noch im Strip Club. Und dann warfen wir ein paar Handgranaten auf Polizeiautos.

Ähnlich wie in Filmen von Quentin Tarantino

Niko haben wir dann mit seinem Freund Jakob auf ein paar Drinks geschickt. Betrunken torkelnd waren die beiden lustig. Wir versuchten auch einen Auftrag als Gangster zu erfüllen, schafften es aber nicht auf Anhieb. Beim Autofahren hörten wir Jazz und HipHop. Benji erzählte, dass er einmal mit Niko extra an den Strand gefahren sei, um sich den Sonnenaufgang über dieser Satireversion von New York anzusehen. Zuletzt sahen wir zu Hause bei Niko noch etwas fern, es lief überspitzte Veralberung des US-Fernsehens.

Um den Einwand vorwegzunehmen: Punkto Gewaltdarstellungen reiht sich "Grand Theft Auto 4" nahtlos in die Reihe der meisten Erwachsenenspiele: Als Gangster Niko darf man alles, Gut-Böse-Schwarz-Weiß-Zeichnungen gibt es kaum noch. Nur Spiel mit Klischees, das mehr oder weniger satirisch ausfällt, ähnlich wie in Filmen von Quentin Tarantino ("Pulp Fiction").

Durch Erfahrungen cruisen

Weil Benji mit Niko all diese Sachen erleben kann, spricht Medienwissenschafter Mathias Mertens von der Uni Hildesheim im E-Mail-Interview mit dem STANDARD auch von einem "Raum für und von Erfahrungen" und einem "Raum der Präsentation" in den letzten Teilen der Grand-Theft-Auto-Reihe. Durch den Anspielungsreichtum präsentiere man sich in GTA selbst, indem man sich bewusst macht, dass man viele coole Dinge kennt und erkennt. Wer die Zitate versteht, könne dort "cruisen", wie Mertens das Sich-Präsentieren nennt. Die Nachbarschaft, durch die man "cruist", bestehe aus vertrauten Gestalten aus den Medien, mit denen man aufgewachsen ist: "Liberty City" aus GTA 4 versammelt Erinnerungen an jenes New York, das wir aus Filmen, TV-Serien und Musikvideos kennen.

Blockbuster-Konkurrenz

Mit dem Erfolg, den Publisher Take Two verbuchen konnte, erreichten Videospiele eine neue Ebene. Mit den exorbitanten Verkaufszahlen (500 Mio. Dollar Umsatz in der ersten Woche), der schnellen Verbreitung, der breit angelegten Werbung, dem erwachenden Interesse in den Massenmedien und ihren Feuilletons, erhebt GTA 4, und damit das Videospiel-Genre insgesamt, den Anspruch auf jenen Platz, den derzeit Kino-Blockbuster besetzten.

Aus der Perspektive des Medienwissenschafters ist das aber nur die selektive Wahrnehmung der Öffentlichkeit: Mertens sieht Computerspiele seit 1972, seit Pong, als Massenunterhaltung und integralen Bestandteil unserer Gesellschaft: "Jede Menüführung eines elektronischen Geräts ist ein Computerspiel. Die Struktur ist genau dieselbe."

Erfahrungen

Mertens geht davon aus, dass durch die Spielearchitektur Erfahrungen erzeugt werden. Handlung stehe nicht im Vordergrund. Die Evolution des Raums in Spielen erklärt er anhand von Klassikern: Demnach legte Breakout 1976 eine Grundregel fest: Beherrsche den Raum, indem du dich an jedem seiner Punkte aufhalten kannst. Pac Man definierte 1980 die Spielfigur. Doom, 1993, veränderte mit 3-D-Grafik die Definition des Spielraums. Die Einführung eines neuen Massenspeichers, der CD-Rom, schuf neue Möglichkeiten: Ebenfalls 1993 zeigte das Fantasy-Abenteuer Myst, dass der Raum mit großen Datenbanken beliebig ausgestattet werden kann (siehe Grafik links oben).

Wii und Co.

Die technische Evolution stand in den vergangenen 35 Jahren im Vordergrund, von den 70er-Jahre-Automaten über die Heimcomputer-Ära bis zu den aktuellen Spielkonsolen Nintendo Wii, XBox 360 und PS 3.

Künftig werde die Technik in den Hintergrund rücken, die Aufbereitung von Inhalten und Themen dagegen wichtiger werden, sagt Niki Laber, Präsident des Österreichischen Branchenverbands für Unterhaltungssoftware. GTA als Platz, der voller Andeutungen mit unserer Medienwelt interagiert, ist ein Beispiel für diesen Trend. Ein anderes ist der Erfolg der "Casual Games", einfacher Spiele, die technische Möglichkeiten nicht ausreizen und die für Konsolen, Webbrowser und Handys adaptiert werden.

Bindungen

Durch sie hält die Spielkultur auch Verbindung zu ihrer Vergangenheit. Pong, Breakout und Konsorten werden auf iPods, Handys und anderen mobilen Geräten am Leben gehalten. Den durchschnittlichen Spieler – laut Laber ist er knapp 36 Jahre alt – begleiten sie damit schon sein ganzes Leben lang. (Alois Pumhösel, DER STANDARD Printausgabe, 19 Juni 2008)