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Ahnungslos überschreiten wir Grenzen, mit und für die Kunst: "Strecken Sie die Hände aus wie ein Flugzeug!" Wir sind ein menschliches Geschwader, der Krieg lässt uns nicht los.

Foto: REUTERS/Prammer
US-Fotograf Spencer Tunick bringt Menschen dazu, sich zu entblößen – öffentlich. Im vergangenen Jahr waren es achtzehntausend in Mexiko City, und auf einem Schweizer Berg legten sich sechshundert für ihn aufs blanke Eis. In diesem Jahr verkühlt sich Wien. Tunick kam auf Einladung der Kunsthalle Wien und der Initiative "Österreich am Ball" , die ihm das Ernst-Happel-Stadion zur Verfügung stellt. 3000 haben sich angemeldet. Wir sind bereit, doch trotz Gedränge scheint die angesagte "gemeinschaftliche Euphorie" meilenweit entfernt, denn nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch ihm Unbekanntes , und die Sonne brennt, die gelbe Sau.

Stadiontore öffnen sich, und gruppenweise führt man uns hinein, zweitausend werden wir schlussendlich sein, und mein Nebenmann sagt unvermittelt, er habe sich auch dort rasiert. "Are you single?" , fragt mich einer und weist mir einen Sitzplatz zu. "Get undressed when the artist says so!" Ich nicke. "You guys are finished." Er wendet sich der nächsten Gruppe zu. Wir sitzen im kühlen Schatten, vor uns ein leeres Fußballfeld, der Lärm der Außenwelt ist abgeschirmt: in dieser Arena sind wir nach außen und in sich, also auf zwiefache Weise geschlossen.

Drei Reihen hinter mir will Maja, 5, endlich Fußball sehen. "Den gibt’s heut’ nicht" , sagt der Vater. Reue, hier zu sein, verspürt er keine, aber den kühlen Wind, der durch das Stadion weht. "Frisch wird’s" , trägt Volksschullehrer Adolf bei, und Christopher, Student, hat Zeit für Selbsterfahrung; er weiß schon jetzt, dass er sich bald komisch fühlen wird (trotz FKK-Erlebnis in Kroatien).

"Wie lange dauert der Quatsch noch?!" , ruft Leopold und beantwortet die Frage selbst: "Zu lang! Das ist österreichische Organisation!" Leopold, 50, sieht unser Dasein als Protestaktion: Nackt stünde die Menschheit gegenüber der von ihr beschädigten Natur, welcher sie schutzlos ausgeliefert sei, und trotz globaler Erwärmung sei ihm und seiner Enkelin kalt. "Who’s in charge for you guys?!" Ein Ordner bringt uns auseinander. "No one should be sitting next to you! Be patient! The artist will be with you soon!" – "Der Godot wär’ längst schon da" , murmelt Benni, 25, Nacktbader aus Leidenschaft. Ein Megaphon tönt, die Toiletten seien im Mittelgang.

"Thank you for coming from the bottom of my heart!" Gottähnlich hallt Tunicks Stimme durch das Stadion, von Lautsprechern überdimensional verstärkt. Er selbst, ein kleiner Mann am Spielfeldrand, winkt uns vertrauenswürdig zu. "Jetzt beginnt der Spaß!" , ruft Maxi, 25, sie wollte immer schon ein Kunstwerk sein.

"During the next hours we will do a number of different setups and especially the last one will be ... fantastic!" Die Menge lacht. "Er hat gut reden," murmelt Benni, "er steht ja in der Sonne. Wir sind ein Setup, das sich verkühlt." Aus der Sonne kommen fortan die Befehle: "When we do the photos, do not smile, have a straight, sad face!" - "Haben Sie ein normales Gesicht!" , sagt der Lautsprecher, so übersetzt man das in Wien, "Und bei drei, da machen wir uns frei." "One..." Im Stadion ist es mucksmäuschenstill. "Two..." Zweitausend Menschen stehen auf, zweitausend Sitze klappern wie ein enthemmtes Metronom. "Three!" Die Tribüne färbt sich neu, gibt einen monochromen Farbton frei, und diese Farbe, die heißt Mensch. Und der ist schön, denk’ ich in einem christlichen Moment, Adam und Eva umdrängen mich in diesem Sinn, unsere Bewegtheit und Bewegung schafft warme Umluft und wir sehen uns plötzlich anders in der Welt: Erst sprachlos, dann folgt ergreifender Applaus, für und von uns selbst, und ungeheuer ist die Erleichterung darüber. Um dieses glücklichen Augenblicks willen, da keiner mehr, keiner besser als der andere ist, werden die Menschen zur Masse, und ich sehe einen wunderschönen Busen.

Jetzt heißt es die Klappsitze der Tribünenreihen zu besteigen. Wir steigen auf, suchen Balance, denn wer den falschen Schwerpunkt wählt, dessen Sitz klappt zu, doch diese Gefahr scheint von allen achtsam anerkannt, nicht so von der Enkelin des Leopold: sie fällt, schreit auf und bricht die Stille. Leo umarmt die Weinende, sucht Trost für sie. Und wir? Wir blicken stumm und nackt auf die Rettung dieser Kinderseele und helfen nicht und blicken wie auf Leopold hinab, als er, schon wieder angezogen, mit seiner Enkelin das Weite sucht. Jetzt hör’ ich erstmals unsere Stimme: Wir buhen dem Leopold und seiner verletzten Enkelin hinterher – schnell reagierte unsere Seele, denn dieser Angriff von innen ist gefährlich. Die Masse fürchtet ihren Zerfall.

"Be quiet! Show me your back!" Die Masse dreht sich sprachlos um, blickt in hunderte von Rücken, in Reih und Glied und gottergeben dem Betrachter ausgeliefert, und bei drei da wird gefeuert, doch auch die Schüsse sind nur Imagination und Bennis Stimme bringt es auf den Punkt: "Jetzt muss ich blöderweise an Konzentrationslager denken." Benni hat Recht, doch das sagt uns keiner – das, was vor 70 Jahren hier geschah. (1939 wurden im Stadion über 1000 Juden drei Wochen lang inhaftiert, später deportiert, Anm. d. Red.) Ahnungslos überschreiten wir Grenzen, mit und für die Kunst. "Strecken Sie die Hände aus wie ein Flugzeug!" Wir sind ein menschliches Geschwader, der Krieg lässt uns nicht los. "And now be balls!" Jetzt sind wir Bälle, die auf den kalten Sitzen knien, Rücken gekrümmt, minutenlang, die Kniegelenke schmerzen. "Jetzt will ich Geld!" , schreit Maxi und blickt wie jeder in das Arschloch seines Nachbarballs – "Thank you from the bottom of my heart!" Das erste Setup ist erledigt, und jene, die einander besser kennen, umarmen sich, um sich zu wärmen, und jene, die allein sind, sind allein. Verschämtes Lächeln am Pissoir, bloßfüßig am uringetränkten Boden, Natürlichkeit hat ihren Preis.

Fußbälle bedecken die Scham

"Hast du Ausländer gesehen?" , fragt Adolf. "Woran erkennt man die?" , fragt Benni. Rücklings liegen wir auf den Sitzen, Köpfe dem Süden zugewandt, starren auf das Stadiondach, und ich spüre fremde Zehen in meinen Haaren. Nun bäuchlings über Lehnen, das Hinterteil dem Künstler zugewandt. Zynisch kommentieren manche Tunicks Instruktionen, Verrat kommt nicht in Frage, das Murren bleibt in den eigenen Reihen.

Das nächste Ziel heißt Sonne: in der Nordkurve, da scheint sie noch. Dort wärmen wir uns an den Strahlen und auch die Presse ist beglückt: Ihr Sektor ist gleich nebenan. Blitzlichtgewitter sieht Menschenmaterial. Erstmals fühle ich mich ausgeliefert, nackt und ausgenützt. Ich suche das Zentrum der Herde, dort wähne ich mich sicher, dicht an dicht gedrängt, keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. Wer immer einen bedrängt, ist das Gleiche wie man selbst. Wie Vieh auf manikürtem Rasen warten wir auf Signale oder Worte, die uns sagen, was zu tun. Ein Journalistenpaar ist plötzlich nackt und überspringt die Bande, die sie von unserem Rasen trennt. Wir johlen, wir, die Masse, wächst. Wer immer wie ein Mensch gestaltet ist, kann zu ihr stoßen. Nur der Zuwachs der Masse verhindert die ihr Angehörigen daran, unter ihren privaten Lasten zurückzukriechen.

"This is an Austrian artwork!", ruft Tunicks Stimme, und die privaten Lasten verschwinden auch zugunsten des nationalen Aspekts. Am Rasen liegen die Männer einem lückenlosen Teppich gleich, es dämmert bereits, Fußbälle bedecken ihre Scham. "Play with your balls!" Das Wortspiel macht die Runde, dann kommen noch die nackten Frauen dran. Dann Kleider gesucht und auch gefunden, "eine Erfahrung war’s" , sagt Benni und reicht mir seine Hand. "Gibt es ein nächstes Mal?" Durch Aussicht auf Wiederversammeln täuscht sich die Masse über ihre Auflösung hinweg.

In der U-Bahn vor mir: Ihren schönen Körper kenne ich, doch erst jetzt, von Kleidern bedeckt, verströmt er Attraktivität. Vor zwei Stunden waren ihre Zehen in meinen Haaren, jetzt blicken wir unsicher aneinander vorbei. Wir sind nicht wirklich und für immer gleich geworden, laufen unseren Familien nicht davon . Wir fahren fort, jeder in sein Leben. Was bleibt, sind Bilder eines Fotografen, in denen wir uns suchen und wiederfinden. Seltsame Leere bleibt: weil niemand sagt uns, was zu tun. (Florian Flicker, ALBUM/DER STANDARD, 21.06/22.06.2008)