Tatsächlich wird hier bürgerlicher Beschaulichkeit ein Spiegel vorgehalten, während sich das Publikum später, beim zweiten Anlass zur Erregung, sogar auf TV-Schirmen beobachten kann: Im von Vera Nemirova erarbeiteten Autodafé greift das Geschehen auf Foyer und Feststiege über.
Das eigentliche Wunder der Inszenierung, die vor diesem Zeitpunkt des Bruchs und der (Zer-) Störung einer Szene äußerst behutsam vorgeht, ist aber, dass sie sogleich wieder zu höchster Konzentration auf die "eigentliche" Handlung findet und ihre Dramatik ausschließlich aus dieser entfaltet.
Die Kunst, in der Konwitschnys wahre Meisterschaft liegt und die er heute mit nur wenigen Opernregisseuren teilt, ist die Genauigkeit der Personenführung, das psychologische Aufzeigen von Figurenkonstellationen. Dass etwa Rodrigue seinen Freund Carlos verraten wird, kündigt sich schon früh an.
Solche Details stehen und fallen allerdings mit den einzelnen Akteuren – sogar mit jenen des ausgezeichneten Chors, bei dem sich in den tableauartig stilisierten Massenszenen eher konventionelle Bühnengesten durchsetzten.
Überhaupt schienen in der ersten Vorstellung der vorerst letzten Aufführungsserie manche der Beteiligten zunächst gleichsam in ihre eigene Haut finden zu müssen: Titelheld Ramón Vargas gab etwa anfangs Anlass zu Sorge, die sich aber als unberechtigt erwies. Er lief ebenso wie Iano Tamar (Elisabeth) zur erwarteten Höchstform auf. Beide vermittelten einen beklemmenden emotionalen Ausnahmezustand, zu dem sich ein ebenbürtiger Ain Anger (Philippe) und ein eindringlicher George Petean (Rodrigue) gesellten.
An Eindringlichkeit ließ es auch Nadia Krasteva (Eboli) nicht fehlen, wenn auch ihre luxuriöse, ausdrucksstarke Sonorität zeitweise in einem gefährlichen Abdunkeln der Stimme mündete.
Als erfolgreiche Rollendebüts sind der Page von Sophie Marilley sowie Ileana Tonca als Stimme vom Himmel zu vermerken, die bei Konwitschny als Showeinlage im Kitschkleidchen auftritt, während Bilder aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, wohin der Menschen Wahnsinn führen kann.
Erst dieser Kontrast lässt den Eigenwert von Kunst ganz begreifen, ebenso ihre Schönheit, wie sie auch von Bertrand de Billy vermittelt wurde. Schon die Musik für den von Wolfgang Bankl abgründig gegebenen Großinquisitors enthielt die ganze Tiefe und Strahlkraft, die der Dirigent zu entfachen verstand, wobei ihm das Orchester nach trägem Beginn bald mit allen gewohnten Qualitäten folgte.