derStandard.at: Herr Doktor Sinowatz, Sie haben in Ihrer Jugend Fußball in Neufeld gespielt. In welcher Position?

Ich habe mit großer Begeisterung als Stürmer Fußball gespielt, bis ich 25 Jahre alt war. Ich war sogar in der burgenländischen Jugendauswahl. Aber es hat sich gezeigt, dass ich zwar gerne gespielt habe aber kein großer Fußballer geworden wäre.

derStandard.at: Schauen Sie sich die Spiele der EM an?

Nicht alle. Seit ich älter geworden bin, dauert mir ein Fußballspiel zu lange. Aber die Österreich-Matches habe ich gesehen. Das Team war besser als erwartet.

derStandard.at: Und woran sind wir Ihrer Meinung nach gescheitert?

Die anderen waren besser. Interessant ist allerdings, dass drei Burgenländer dabei waren.

derStandard.at: Was wäre Ihr Tipp als EM-Meister?

Deutschland. Aber gegen meinen Willen. Weil die Deutschen ein bisschen zur Übertreibung neigen und man hat das Gefühl, dass sie auf Kommando alles mit Hundertprozent machen. Wir Österreicher haben die nötige Schlampigkeit.

derStandard.at: Das heißt, wir werden es nie zu einem Europameister bringen?

Nein, nie.

derStandard.at: Einer Ihrer bekanntesten Sager ist: "Es ist ja alles sehr kompliziert", der hängt Ihnen bis heute nach. Wie ist der eigentlich entstanden?

In einem langen politischen Leben, wird man es gewöhnt, falsch zitiert zu werden. Das ist eigentlich die Zusammenfassung eines Absatzes in meiner Regierungserklärung 1983. Freunde von mir haben gesagt, nicht mach das, das kann missverstanden werden. Ich habe ungefähr gesagt: Es ist eine Zeit, die sehr komplex geworden ist, sozial, wirtschaftlich, technisch. Daher ist es auch nicht leicht die politischen Konsequenzen zu ziehen und es gibt nicht nur Schwarz-Weiß Entscheidungen sondern man muss differenzieren. Weil ich der Meinung bin, dass die Demokratie nur am Rande funktionieren wird, solange die Leute nicht bereit sind sich auch um die Hintergründe zu kümmern. Wenn man im ORF in 15 Sekunden die Welt erklärt oder wenn eine kleinformatige Zeitung noch mehr als die Welt erklärt, dann haben wir eine Welt, die so gemacht wird, wie die wollen. Da steckt wenig Gedanke dahinter.

derStandard.at: Stört es Sie, dass der Sager so verkürzt übrig geblieben ist?

Selbst wenn es mich stören würde, könnte ich nichts machen. Aber es gibt immer mehr Zustimmung, immer mehr Menschen sagen: Naja, da hat er schon recht gehabt.

derStandard.at: In Ihrer gesamten politischen Karriere, selbst als Sie Kanzler wurden sind Sie jeden Tag am Abend nach Hause gefahren. Was war das Besondere am Burgenland, das Sie immer nach Hause gezogen hat?

Hier liegen meine Wurzeln und ich habe immer gerne in dieser ländlichen Gemeinde – heute Stadt – gelebt. Ich habe einige Male eine Wohnung in Wien bezogen, dann aber wieder aufgegeben. Wir im Burgenland sind es gewohnt in Häusern zu leben.

derStandard.at: Sie haben einmal gesagt: "Der Politiker soll einer sein, der so ist, wie die Menschen auf der Straße". Denken Sie, dass das auf Ihre Karriere zugetroffen hat?

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, aber ich wollte es zumindest.

derStandard.at: Glauben Sie, trifft es auf den Großteil der heutigen Politiker zu?

Ich bin vor zwanzig Jahren aus der Politik ausgeschieden und in diesen Jahren hat sich gewaltiges verändert. Ich scheue davor zurück, so aus der Entfernung Meinungen zu äußern. Mir geht das auf die Nerven wenn sich manche ununterbrochen zu Wort melden. Wie der Helmut Zilk, der jede Nacht schon drüber nachdenkt, was er am nächsten Tag im Fernsehen sagt.

derStandard.at: Wie sehr entsprechen Alfred Gusenbauer und Werner Faymann dieser Definition?

Ich kann das nicht sagen. Ich kenne beide sehr gut aus der Zeit als ich Parteivorsitzender war, kann ihre Unterschiede jetzt aber nicht so genau ausmachen. Da waren sie beide die jungen Revolutionäre.

derStandard.at: Wer war wilder?

Das kam auf die Themen drauf an. Natürlich ist das jetzt anders. Es ist das Vorrecht der Jungen, mit der Gegenwart nicht zufrieden zu sein. Das ist durchaus normal. Wenngleich derjenige, der den Vorsitz des Parteivorstandes führt hie und da ungeduldig wird.

derStandard.at: Wenn Sie an Ihre Parteijugend denken, haben Sie dann das Gefühl, dass heute von der Jugend zu wenig Aufschrei kommt?

Es gibt einen Unterschied. Noch in den 60er und 70er Jahren, waren mehr junge Menschen bereit politisch zu denken und zu handeln. Es ist heute so, dass die Jungen nur schwer für politische Tätigkeiten zu gewinnen sind.

derStandard.at: Woran liegt das?

Zum Teil ist ihr Leben anders geworden. Ich bin schon relativ alt gewesen, als ich das erste Mal im Flugzeug gesessen bin. Meine Enkelkinder sind schon in der halben Welt herum geflogen. Es gibt heute viel mehr Möglichkeiten: Früher war die Frage der Gemeinschaft viel wichtiger als das heute der Fall ist. Der zweite Punkt ist, dass heute die Parteien nicht oder weniger in der Lage sind, die Jungen zu begeistern.

derStandard.at: Das klingt ein bisschen nach Entsolidarisierung?

In der Angst vor einer Ideologisierung sagt man, man muss ganz offen sein, mit dem Ergebnis, dass man gar keine Ideologie hat. Das ist auch schlecht. Ganz gleich welche man hat. Man kann ohne politische Gesinnung keine anderen Menschen für die Politik interessieren. Aber Es kann auch ein Vorteil sein, dass die politischen Prozesse nicht mehr so radikalisiert sind wie das einmal gewesen ist.

derStandard.at: Sie haben in einem Interview (Wiener Zeitung, 28.12.2007) gesagt, das österreichische Parteiensystem spitze sich auf die zwei großen Parteien SPÖ und ÖVP zu. Alle anderen wären nur am Rande beteiligt. Nun ist vermutlich die FPÖ die Partei, die von der Krise der SPÖ am meisten profitiert. Kommt nach der Zeit der Großparteien jetzt eine der Protestparteien?

Das glaube ich nicht. Es gibt zwei politische Lager in Österreich – das bürgerliche und das sozial-demokratische – und die stammen nicht von gestern sondern haben einen langen geschichtlichen Hintergrund. Alles andere steht am Rand.

derStandard.at: Sie haben vor nicht zu langer Zeit, den Grünen ein kurzes Leben als Partei beschieden. Jetzt ist es aber doch so, dass sie immer wieder Zugewinne macht und in kleinen Schritten weiter wächst.

In Wahrheit hält sich das in Grenzen, denn die Grünen kommen nicht weiter. Ich glaube nicht, dass sie jemals eine Großpartei werden. Auch deshalb nicht, weil sie zu einseitig in ihrer Politik sind. Es genügt nicht nur gegen eine Straße zu sein.

derStandard.at: Was ist mit der FPÖ?

Die FPÖ ist eine – je nachdem wer sie führt – mit einem nationalen Hintergrund ausgestattete Partei, die dem Volk nach dem Mund redet. Aber der Höhepunkt war mit Jörg Haider gegeben und ist mittlerweile überwunden. Unter Heinz-Christian Strache werden so hohe Gewinne nicht möglich sein. Aber ich bin kein Prophet und ich weiß nicht, wie er sich entwickeln wird.

derStandard.at: In Umfragen liegt die FPÖ gut, theoretisch wäre Rot-Blau möglich. Sollte die SPÖ mit den Freiheitlichen koalieren?

Als Privatmann, der keine politische Funktion ausübt, glaube ich, man sollte alles offen halten. Vielleicht wird Strache eine andere Gangart wählen. Und vielleicht wird es eine Zeit geben, in der so etwas in Erwägung gezogen wird. Aber das hängt davon ab, ob eine Partei – und das gilt vor allem für die Sozialdemokraten – moralisch in der Lage ist, eine solche Koalition zu führen. Bei der ÖVP ist es da leichter: das ist eine bürgerliche Partei, mit verschieden ausgerichteten Arbeitnehmern und Industrie, während die SPÖ aufgrund ihrer Geschichte eher eine ideologisch verankerte Gemeinschaft ist.

derStandard.at: Das heißt aber Sie würden eine mögliche Koalition nicht ausgrenzen? Es hat da ja zum Beispiel die Vranitzky-Doktrin gegeben, dass man niemals mit der FPÖ koaliert.

Wir müssen uns alle davor hüten, dass Maßnahmen, die vor zwanzig Jahren gesetzt wurden, heute noch Gültigkeit haben. Das ist das große Problem der Politik: das mit den Mitteln von gestern die Probleme von heute gelöst werden. Ich bin gegen eine Ausgrenzung.

derStandard.at: Zurück zur SPÖ: Norbert Leser hat in einem Interview mit derStandard.at gesagt, er sieht den Tod der sozialdemokratischen Bewegung. Sind Sie da einer Meinung?

Nein. Ich kenn den Norbert Leser sehr gut, auch deswegen, weil wir ein bisschen verwandt sind. Meine Großmutter war eine Leser. Und der Norbert ist halt frustriert. In Wahrheit wäre er gerne Politiker geworden. Aber er ist keiner, der die Leute auf der Straße versteht.

derStandard.at: Aber es gibt ja gerade eine Krise der SPÖ oder sehen Sie das anders?

Krisen gibt es immer. Selbst bei uns als Menschen gibt es immer wieder Krisen. Das gehört scheinbar dazu. Aber die Sozialdemokratie ist als Versuch die jeweilige Gesellschaft zu mehr Chancengleichheit und zu mehr Gerechtigkeit zu verändern nicht wegzudiskutieren.

derStandard.at: Für wie schwerwiegend halten Sie diese Krise dann?

Die Sozialdemokratie hat immerhin das Jahr 1934 und die Nazizeit überstehen müssen. Unter diesem Licht betrachtet, ist diese Krise nicht von dieser Qualität. Aber dadurch dass es in unserer Zeit anders ist als gestern, muss sich die SPÖ dieser Aufgabe mehr zuwenden. Ich hoffe, dass der neue Parteiobmann die Lösung dieser Krise als seine Bestimmung an sieht.

derStandard.at: Glauben Sie, ist Werner Faymann der richtige für diesen Job?

Das könnte ich mir vorstellen. Er ist ein Politiker unserer Zeit ist: sehr beweglich, sehr modern. Und die Aufgabe, die er hat, ist schwer genug, nämlich der Partei wieder jenen organisatorischen Rahmen zu geben, den sie braucht.

derStandard.at: Nach den jüngsten Turbulenzen in der SPÖ hat man nun die Spitze geteilt: Gusenbauer bleibt Kanzler, Faymann wird SPÖ-Chef. Bis jetzt war Parteispitze und Kanzler innerhalb der SPÖ erst einmal getrennt nämlich zwischen Ihnen und Vranitzky. Allerdings umgekehrt. Wäre das in Ihren Augen vielleicht eine bessere Lösung gewesen?

Das war damals etwas anderes. Ich bin als Kanzler zurückgetreten, aber zur Unterstützung von Vranitzky Parteiobmann geblieben. Für mich war die Tatsache, dass ich Kanzler werden musste, keine Wunschkarriere.

derStandard.at: Warum wollten Sie so ungern Kanzler werden?

Wissen Sie, was mich heutzutage ein bisschen an der Politik stört? Diese Personifizierung. Es wird viel zu viel über Personen geredet und viel zu wenig über Inhalte, Planungen, Vorstellungen, Wünsche. Das ist nicht richtig.

derStandard.at: Wer ist daran schuld?

Zum Teil schon die Medien. Aber ich versteh dass, die wollen ihre Zeitungen ja verkaufen. Es ist auch für den Leser interessanter, etwas über Personen zu lesen. Darüber, wer wen heiratet, wer wen betrügt und wer sich von wem wieder scheiden lässt. derStandard.at: Verkommt die Politik zu einer bloßen Inszenierung?

Man muss aufpassen. Es ist unverkennbar, dass zuviel inszeniert wird.

derStandard.at: Sie waren selbst ein – überspitzt formuliert – Inszenierer: Sie haben mit Marlene Charell getanzt, sind als Bobfahrer, Radler, Waldläufer und Gipfelstürmer aufgetreten. Wir haben außerdem gehört, Sie sind bei der Einweihung der Schanze in Innsbruck 70 Meter weit gesprungen. Stimmt das?

Das ist eine Erfindung. Es gehörte zu meiner Aufgabe als Kanzler die dortige Bobbahn weltweit bekannt zu machen und da war ich bereit mit dem Bob zu fahren; gemeinsam mit Alois Lugger, dem damaligen Bürgermeister von Innsbruck. Da waren Fotographen von überall. Der Lugger ist zu Beginn am Bob hängen geblieben und hat die Hose aufmachen müssen, um los zu kommen. Ich hab während der Fahrt die Augen zu gemacht: wenn man das nicht gewöhnt ist, rumpelt es ein bisschen und dann ist man unten und froh, dass man heil ist. Der Lugger steht auf und vergisst die Hosen zuzumachen und auf einmal ist er in der blauen Gattihosen da gestanden. Der Mann, der den Bob geführt hat, war übrigens Fritz Dinkhauser. Wie er älter geworden ist, hat er vom Sportler zum Politiker gewechselt.

derStandard.at: Haben Sie diese Auftritte gemacht, weil es Ihnen gefallen hat oder weil das gut für die Medien war?

Wenn ich Inszenierung sage, meine ich nicht, dass man auf sich nimmt auf den Patscherkogel zu gehen, sondern eine politische Aktion vorzubereiten und zu inszenieren. Das ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit und notwendig.

derStandard.at: Alfred Gusenbauer ist vor der Nationalratswahl 2006 auch Wandern gegangen.

Der Gusenbauer ist fleißig und ein sehr intelligenter Mann. Er spricht einige Sprache und ist tatkräftig. Er ist unter seinem Wert geschlagen worden.

derStandard.at: Sie haben in einem Interview (Kleine Zeitung, 23.5.2008) gesagt, Alfred Gusenbauer wird als Kanzler "die große Überraschung werden, weil er Standfestigkeit besitzt." Jetzt wird gerade er als "Umfaller" gehandelt. Was ist da passiert?

Sie müssen sich vorstellen: es ist für einen Politiker nicht leicht, wenn er vom ersten Tag an öffentlich wegen seines Aussehens oder anderen Gründen kritisiert wird. Gusenbauer wurde von Beginn an herabgesetzt. Und er hat das durch gestanden. Wie es weiter geht, weiß man nicht.

derStandard.at: Wird er bis zum Ende der Legislaturperiode durchhalten?

Ja.

derStandard.at: Warum?

Wenn man alles wegnimmt was medial berichtet wird, hat er in der Regierung im Grunde genommen vieles hingekriegt. Die Schwierigkeit liegt darin, dass erwartet wird, dass eine Gesundheitsreform – die die Komplizierteste überhaupt wird – im ersten Anlauf gelingt.

derStandard.at: Soll Gusenbauer der nächste Kanzlerkandidat sein?

Ich bin nicht mehr im Parteivorstand – die werden das zu entscheiden haben.

derStandard.at: Karl Blecha hat in einem Interview mit derStandard.at gesagt, die SPÖ war früher die Partei der Moderne, voller Visionen. Heute scheint sie eher auf der Stelle zu treten. Was fehlt da?

Es fehlt die Zukunftbezogenheit, die Absicht, die Gesellschaft zu verändern. Es fehlt die Vision. Das ist ja nichts Böses. Die kann man nicht erfinden, das geschieht durch Diskussion und durch Auseinandersetzung in der Partei.

derStandard.at: An Auseinandersetzung mangelt es aber eigentlich nicht. Die roten Landeshauptleute sind mächtige Menschen, die das den Kanzler auch spüren lassen. Wie finden Sie diese ständigen Zwischenrufe der Landeshauptleute?

Bisweilen wäre mir lieber, es würde eine einheitliche Meinung geben. Aber das kann man nicht erwarten. Landeshauptmänner sind ihrem Land verpflichtet und da wird es immer Schwierigkeiten geben. Aber es ist bemerkenswert, dass vier Bundesländer rot sind. Das war schon anders früher. Ich bin im Dezember 1953 Sekretär eines sozialistischen Landesrates geworden. Ich musste mich beim ÖVP-Landesamtsdirektor vorstellen. Das waren autoritär-ungarische Verhältnisse. Der hat mich eine halbe Stunde stehen lassen und wie er draufgekommen ist, dass ich ein Roter war, hat er gesagt: ‚Herr Doktor, ich sage Ihnen, in dem Land werden Sie nichts werden’.

derStandard.at: Glauben Sie, war der Kanzler früher von Amt wegen ein mächtigerer Mann oder kommt das nur auf die Person drauf an?

Wir haben in Österreich im Gegensatz zu Deutschland kein Bestimmungsrecht. Das Kanzleramt ist eigentlich ein primus inter pares (lat.: Erster unter Gleichen). Aber: er kann durch Koordination doch Führungsaufgaben übernehmen und das geschieht auch. Es hängt aber stark von der Person ab. Kreisky war ein starker Kanzler; Weil er Erfolg hatte, weil sein internationaler Habitus da war und weil er intellektuell dazu in der Lage war. Aber er war kein Mensch ohne Fehler.

derStandard.at: Sie wollten nie sein Nachfolger werden. Gab es jemanden, der ihm das Wasser reichen konnte?

Ich wäre froh gewesen, wenn man einen anderen gefunden hätte. Aber es haben sich nicht viele darum gerissen, nach Kreisky Bundeskanzler zu werden. Wir waren vier Freunde, die damals dafür in Frage gekommen sind: der Charly Blecha, der Heinzi Fischer, der Poidl Gratz und ich. Aber man kann den Menschen nicht wiederholen. Ich hab gegen den Willen vom Kreisky den Franz Vranitzky zum Finanzminister gemacht, schon in der Absicht dass er Bundeskanzler wird. Und zwar deswegen, weil das Ende der 70er und der Beginn der 80er Jahre wirtschaftlich eine Wende gebracht hat. Ich wollte, dass die Partei eine wirtschaftliche Note bekommt.

derStandard.at: Der ehemalige verstorbene Bundespräsident Kurt Waldheim hat seine Kritiker in seinem Testament um Versöhnung gebeten. Sie waren wohl einer seiner schärfsten. Haben Sie sich nun im Nachhinein aufgrund des Testaments mit ihm ausgesöhnt?

Das musste ich gar nicht. Ich bin nach der Wahl mit ihm einige Male zusammengetroffen. Ich glaube, dass es für Österreich besser gewesen wäre, wenn er nicht Präsident geworden wäre. Es war zu erwarten, dass es international Widerstände gibt. Aber rein menschlich hatte ich stets Kontakt zu ihm.

derStandard.at: Der gesuchte mutmaßliche Nazi-Kriegsverbrecher Milivoj Asner lebt seit Jahren völlig unbehelligt in Innsbruck. Tut sich Österreich in punkto Aufarbeitung der NS-Vergangenheit noch immer schwer?

Die NS-Vergangenheit wird nicht dadurch aufarbeitet, dass drei oder vier Leute die noch leben zur Verantwortung gezogen werden. Ich bin da sehr skeptisch. Es gibt diese Arbeit vom BSA, da sind natürlich Leute angeführt, die tatsächlich Nazis waren. Aber da man muss ja differenzieren. In der Nazizeit konnten junge Menschen, die eine berufliche Karriere angestrebt haben dem System zwar nahe stehen, mussten deswegen aber noch keine Nazis sein. Zum Beispiel wird das der Köry angeführt. Der war in Finnland eingerückt und ist in seiner Abwesenheit in die NSDAP aufgenommen worden. Man muss immer bedenken: es gibt welche, die wirkliche Verbrechen begangen haben, aber wenn man heute in Ost-Deutschland nachgehen würde, müsste man die Hälfte der Menschen aus ihren Ämtern entfernen.

derStandard.at: Sie meinen, dass es keinen Sinn machen würde, diejenigen, die Verbrechen begangen haben heute noch zu bestrafen?

Wenn es echte Verbrechen waren, sollte man sie gerichtlich belangen. Aber ich meine man kann den Nationalsozialismus nicht ausschließlich so überwinden. Ich bin Historiker und beschäftige mich damit. Und es ist so widersinnig und furchtbar, wie am Ende des Krieges tausende und abertausende von Juden umgebracht wurde, wegen nichts und wieder nichts. Solche grauenvolle riesige Dinge, kann man nicht mit den Schicksalen einzelner Menschen überwinden.

derStandard.at: Noch einmal zur Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen der SPÖ durch das BSA: Finden Sie das gut?

Ich war dagegen. Weil das eingetreten ist, was ich gesagt habe: bei der SPÖ ist es passiert, bei der ÖVP hat es nicht stattgefunden. Und weil ich es vielleicht für mich persönlich interessant halte, aber für die Sache der Überwindung des Nationalsozialismus sind andere Dinge notwendig.

derStandard.at: Wie können solche Sachen überhaupt überwunden werden?

Durch eine ehrliche, aufrechte, demokratische Haltung. Nach dem Krieg hat niemand darüber geredet; da haben zwar die Prozesse um die Kriegsverbrecher stattgefunden, aber die Lehrer wollten nicht darüber reden, weil sie gewusst haben, dass die Eltern das nicht wollen. Alle haben gesagt: „Lasst mich damit in Ruhe, das ist vorbei“. Zwanzig Jahre nachher hat man das aufgegriffen, das ist ein Prozess der jahrelang dauert. Und der muss weitergehen. Als Unterrichtsminister war ich bemüht, politische Bildung zu vermitteln. Das war furchtbar schwierig. Alle haben sich dagegen gewehrt.

derStandard.at: Was wären Sie lieber geworden als Kanzler?

Pensionist. Ich lebe mit meinen Büchern, ich bin Historiker. Ich beschwer mich nicht, aber die Ausübung einer höheren politischen Funktion ist auch schwierig: für die Familie, die Gesundheit, für alles.

derStandard.at: Was machen Sie zurzeit?

Ich bin nicht mehr Pensionist, sondern ich bin alt. Mir fehlt die Kraft. Ich hab bis zum Jahr 1970 eine Arbeit geschrieben, der zweite Band würde dann die andere Zeithälfte behandeln, aber ich bring die Kraft nicht auf. Ich habe das nach außen für meine Enkelkinder geschrieben, aber es sind Memoiren. Ich schreibe sie mit der Hand und von Zeit zu Zeit kommt meine Sekretärin aus der Bundeskanzlerzeit und tippt sie ab. Was Computer angeht, bin ich leider nicht mehr dazu gekommen, was sehr wichtig gewesen wäre. Weil das recherchieren im Internet viele Möglichkeiten bietet, aber ich bin sowieso ausgelastet. Ununterbrochen ist was los.

derStandard.at: Haben Sie Erfahrungen mit dem Internet?

Nur indirekt. Meine Enkeltochter ist 24 Jahre und schreibt gerade ihre Diplomarbeit an der Universität und die berichtet mir, alles was im Internet interessant ist.

derStandard.at: Glauben Sie, ist die Welt durch das Internet einfacher oder komplizierter geworden ist?

Die Welt ist durch die unerhörten Möglichkeiten – technisch, wissenschaftlich – komplizierter geworden. Als ist ein Bub war, sind wir oft in den Straßengräben gesessen und wenn einmal ein Flugzeug vorbei geflogen ist, war das eine Sensation. Jetzt fliegen wir zum Mond; das regt niemanden mehr auf. Als Student hab ich zum ersten Mal in der Auslage eines Geschäftes einen Fernsehapparat gesehen: heute sitz ich da und kann, wenn ein Hochwasser in Amerika ist, in Farbe und live alles miterleben. Das ist ein Wunder. Für mich, für meine Enkelkinder nicht, für die ist das Selbstverständlich. Daher kompliziert wird es durch die vielen Erfindungen schon, aber die betreffenden Personen haben diese Schranke nicht, die wir hatten. Die Jungen leben damit.

derStandard.at: Sie haben in einem Interview vor nicht so langer Zeit gesagt, dass Sie am Abend

Nicht mehr jeden Tag. Ich vertrag nichts mehr. Als junger Mensch hab ich relativ viel vertragen, jetzt trink ich hier und da Mineralwasser mit einem Schuss Wein.

derStandard.at: Roter oder Weißer?

Das ist egal.

derStandard.at: Herr Gusenbauer nennt sich selbst Weinkenner. Was ist Ihr Lieblingswein?

Für mich ist der Maßstab, dass der Wein schmeckt. Für mich war das größte Ereignis mit dem Wein, der Weinskandal.