Standard: Herr Ruttensteiner, welche Mannschaft hat Sie bisher am stärksten beeindruckt?

Ruttensteiner: Dass es so etwas überhaupt gibt – drei Tage nach dem 2:0 über die Schweden laufen die Russen 120 Minuten, dass der Gegner, die Holländer, mit Krämpfen zusammengebrochen sind. Da frage ich mich: Was trainieren die?

Standard: Und ihre Spielanlage?

Ruttensteiner: Dieses geradezu wahnsinnige Vertikalspiel. Das gehört zum Schwierigsten: die Räume öffnen, aber die Russen konnten das mit einer derartigen Rasanz und Leichtigkeit – wirklich sehr beeindruckend.

Standard: Ist das nicht die Hauptfrage: Wie kann ich ein derartiges Tempo aufbauen oder verhindern? Wie die Italiener gegen die Spanier.

Ruttensteiner: Die Italiener und die Spanier waren zwei gutorganisierte Teams, die Italiener haben ein wenig müde gewirkt. Alle Mannschaften stehen heute tief, daher ist der Raum für schnelles Spiel nicht vorhanden.

Standard: Was ist die beste Gegenmaßnahme?

Ruttensteiner: Ballzirkulation. Jede Mannschaft fixiert sich auf den Bezugspunkt Ball, verschiebt, ihm folgend, ihre Formation. Wenn ich den Ball schnell hin und her spiele, bereite ich die Öffnung von Räumen vor, weil der Gegner irgendwann nicht mehr mitkommt.

Standard: Das hat den Holländern nichts mehr genutzt.

Ruttensteiner: Nein, aber sie sind dennoch eine exzellente Mannschaft. Wenn ihr Tormann den Ball hat, gehen die Innenverteidiger an die zwei Sechzehnerecken, die Außenverteidiger auf die Flügelstürmerpositionen, sie machen ihrer Offensive zuliebe den Raum breit. Wenn der Gegner den Ball abfängt, hat er Platz.

Standard: Und schon beginnt ein schönes Spiel?

Ruttensteiner: So ist es. Die taktische Raffinesse von Guus Hiddink und die individuellen Fertigkeiten der Russen – bisher optimal.

Standard: Sie haben Deutschland dreimal beobachtet. Was war mit denen los?

Ruttensteiner: Im ersten Spiel gegen Polen waren sie überragend. Im zweiten Spiel gegen die Kroaten schlecht, entweder müde oder ein wenig überheblich. Ich habe Löw gefragt, er wusste es selber nicht genau. Gegen uns war’s ein Arbeitssieg und gegen Portugal eine taktische Meisterleistung mit zwei defensiven Dreiecken gegen die drei offensiven Mittelfeldspieler.

Standard: Welcher Bereich entwickelt sich am stärksten weiter?

Ruttensteiner: Die Defensivorganisation und die Athletik. Mit neuen Analysemethoden wie dem von Amisco, das wir verwenden, kann ich außerdem Szenen mit den Spielern zerlegen, die nicht auf dem TV-Bild sichtbar sind.

Standard: Doch Daten wie Ballbesitz, Laufleistung, Passversuche oder Durchschnittsgeschwindigkeit sind missverständlich.

Ruttensteiner: Ja. Daten können Irrtümer korrigieren, aber ohne die Spielanalyse des Trainers sind die Daten leer.

Standard: Welche Konsequenz für den ÖFB ziehen Sie aus der EURO?

Ruttensteiner: Der Fußballer muss als Individuum ausgebildet werden. Wir haben das in der Challenge 2008 bereits betrieben. 24 Männer des Challenge-Kaders 2003 waren bei den Spielen gegen Deutschland und Holland im Teamkader.

Standard: Wird die Challenge 08 fortgesetzt?

Ruttensteiner: Der Endbericht wurde sehr positiv aufgenommen, die Kritik an der Verschwendung ist obsolet, wir konzipieren eben eine Weiterführung, und ich hoffe, dass das institutionalisiert wird. (Mit Willi Ruttensteiner sprach Johann Skocek - DER STANDARD PRINTAUSGABE 24.6. 2008)