Die Fankultur bei der EURO ist für den Kulturwissenschafter Hans Ulrich Gumbrecht "eine neue Art europäischer Mittelklasseferien".

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Hans Ulrich Gumbrecht ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University und einer der führenden Vertreter seines Fachs. Porträt zum 60. Geburtstags eines Kulturwissenschafters als leidenschaftlicher Sportfan.

Es wäre wohl der Höhepunkt in der Karriere des nebenberuflichen Sportexperten gewesen: Am 13. September 2001 hätte Hans Ulrich Gumbrecht im brasilianischen Sportfernsehen auftreten sollen – und zwar im Trio mit zwei der größten Fußballer überhaupt: Pelé und Romario. Leider kam 9/11 dazwischen, und so wurde nichts aus dieser Begegnung zweier Welten.

Warum ausgerechnet ein Stanford-Professor mit zwei lebenden brasilianischen Legenden diskutieren sollte, hatte seinen guten Grund: Tostão, heute der führende Fußballintellektuelle des Landes und in den 1970er-Jahren Stürmerstar der Seleção, hatte in seiner Kolumne gemeint, dass der Einzige, der gut über Fußball schreibt, ein US-amerikanischer Philosoph sei. Was naturgemäß zu einem Aufschrei der brasilianischen Sportjournalisten führte.

Gemeint war Hans Ulrich Gumbrecht, der eigentlich einer der international einflussreichsten Literaturwissenschafter ist, dieser Tage 60 wurde und eben auch "seit 54 Jahren Sport verfolgt". Das genaue Datum seiner Initiation kann er natürlich auch nennen: der 4. Juli 1954, das Wunder von Bern, als die Deutschen im Finale die favorisierten Ungarn 3:2 bezwangen.

Ein Anhänger der deutschen Nationalmannschaft ist er deshalb noch lange nicht, eher im Gegenteil. Wie er überhaupt ein ambivalentes Verhältnis zu Deutschland hat, dem er nach einer akademischen Blitzkarriere (Dissertation mit 23, Habilitation und erste Professur mit 26) 1989 den Rücken kehrte, um seine Professur an der kalifornischen Elite-Uni anzutreten. Seit acht Jahren ist Gumbrecht auch US-Bürger, hat Dauerkarten für Eishockey, Basketball und Football und ist mittlerweile auch mehr auf diese Sportarten konzentriert, weil er in den USA niemanden habe, mit dem er kompetent über Fußball reden könnte. American Football zum Beispiel hält er für ein intelligentes Spiel, "eine Kombination aus Gewalt und Schach", sagt Gumbrecht, der Baseball und Rugby "sehr schön" findet.

In Praise of Athletic Beauty heißt denn auch das jüngste Buch des notorischen Vielschreibers, das mittlerweile in 13 Sprachen übersetzt wurde. Auf Deutsch erschien es 2006 unter dem etwas ungenauen Titel Lob des Sports – als polemisches Plädoyer dafür, die Rezeption von Sportereignissen als eine Art von ästhetischer Erfahrung zu begreifen. Damit eckte der bewegliche, stets auf Angriff eingestellte Denker gleich mehrfach an: Dass man ein Fußballmatch ähnlich wie eine Aufführung von Beethovens Neunter wahrnimmt, muss sowohl für den konventionellen Stadion- wie auch für den Konzertsaalbesucher ein Affront sein. Und bei den zumindest bis vor kurzem eher sportfeindlichen deutschen Intellektuellen in der kritischen Tradition der Frankfurter Schule musste so viel Affirmation ohnehin grundsätzlich verdächtig sein.

Was nicht heißen soll, dass Gumbrecht unkritisch wäre: Der angesehene Professor und Sportfachmann sucht permanent die Auseinandersetzung, bewegt sich bewusst dorthin, wo es wehtut, und landet immer wieder schöne Treffer – egal, ob es nun um den deutschen Antiamerikanismus geht, die vermeintliche Krise der Geisteswissenschaften oder die Klub-Vorlieben der deutschen Fußballintellektuellen: "Die müssen ja Fans vom FC St. Pauli oder vom SC Freiburg sein, aber ja nicht von einer Mannschaft wie Borussia Dortmund, so wie ich."

Die EURO verfolgte er anlässlich seines Österreich-Besuchs und moderierte auf Einladung der Kunst-Uni Linz und Linz 08 sogar das letzte Viertelfinale zwischen Spanien und Italien. Eigentlich war er allerdings hier, um eine Kooperation zwischen der Kunst-Uni Linz, der Angewandten, dem britischen King’s College und seiner eigenen Universität zu besiegeln. Der Kulturtheoretiker Herbert Lachmayer vom Wiener Da-Ponte-Institut hat unter dem Titel "Staging Knowledge" ein internationales Graduiertenkolleg entwickelt, bei dem Kulturwissenschafter zu philosophisch geschulten Kultureventmanagern ausgebildet werden sollen. Lachmayer findet er deshalb gut, "weil er was riskiert".

Entsprechend schlecht fand der Romanist die Italiener, "die so gespielt haben, wie sie immer spielen". Für die Semifinale sei alles offen, mit leichten Vorteilen für die Russen, weil die mit den Niederlanden den spielstärksten Gegner eliminiert hätten. "Aber es weiß im Grunde ja niemand, wie gut die Russen wirklich sind. Und die Russen vermutlich auch nicht." Am meisten aber war Gumbrecht von der Fankultur als soziologisches Phänomen fasziniert: Das sei "eine neue Art europäischer Mittelklasseferien", die es erst seit der WM in Deutschland 2006 gebe und die ihm schon wieder fast zu verbrüdernd sei. "Hauptsächlich geht es ja um den nachhaltigen Bierrausch und weniger um das Spiel, auf das die Leute oftmals auch gar nicht wirklich konzentriert sind", klagt der nebenberufliche Sportexperte. "Aber das ist jetzt auch nicht das Ende des Abendlandes." (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.6. 2008)