"Es hat noch nie eine Situation gegeben wie jetzt", erklärte Vizekanzler Molterer nach dem ÖVP-Parteivorstand am Freitag diese Vorgehensweise. Auch mit Bundespräsident Heinz Fischer habe er bereits telefoniert und ihn um ein Treffen ersucht.
Neben der Kür von Maria Fekter zur neuen Innenministerin (siehe Seite 4) war der SPÖ-Meinungsschwenk zum Thema EU-Verträge das große Thema beim Parteivorstand. Gusenbauer und Faymann hatten am Donnerstag erklärt, die SPÖ wolle in Zukunft Volksabstimmungen über Übereinkommen wie den - längst vom Parlament ratifizierten - Vertrag von Lissabon abhalten.
Ein "Tabubruch", wie man in der ÖVP meint. Andere Streitereien würde man halt aussitzen - derart grundsätzliche staatspolitische Themen sollte man aber nicht "zum Gegenstand von Spielchen machen". "Man hat das Gefühl, der SPÖ ist nichts mehr heilig", formuliert es ein ÖVPler. Wirtschaftsminister Martin Bartenstein nannte den neuen SPÖ-Kurs den "Gipfel der politischen Unnötigkeit".
Also sucht die ÖVP nun das "klärende Gespräch" bei Bundespräsident Heinz Fischer. Formal könnte der zwar den Bundeskanzler entlassen und damit praktisch Neuwahlen auslösen - tatsächlich hat aber noch kein Präsident der Zweiten Republik von diesem Recht Gebrauch gemacht.
Präsident überrascht Auch der Bundespräsident hatte vom roten Kursschwenk aus den Medien erfahren - und das, obwohl Kanzler Gusenbauer tags zuvor in der Hofburg war, um die Regierungsumbildung zu besprechen. Kundgetan hatte die SPÖ-Doppelspitze ihre neue EU-Linie ausgerechnet in einem Brief an den Herausgeber der EU-kritischen Kronen Zeitung, Hans Dichand. Die Vorgehensweise regt den Koalitionspartner auf: Die Regierungsarbeit sei "schwierig, wenn eine Partei nach Belieben ihre Meinung am Zeitungsständer abgibt", meinte ÖVP-Regierungskoordinator Pröll.
Molterer will nicht glauben, dass Gusenbauers und Faymanns Brief an Dichand tatsächlich die Meinung der SPÖ repräsentiere. Sie habe damit den Europa-Konsens in der Regierung verlassen - "von Faymann verursacht, von Gusenbauer zu verantworten". Andere rote Regierungsmitglieder stellten sich am Freitag hinter die beiden: Sozialminister Erwin Buchinger meinte, man solle auf die Bürger hören und ihnen die Möglichkeit einer "direkten Beurteilung" der EU geben. Bildungsministerin Claudia Schmied sprach sich dafür aus, bei "großen strategischen Entscheidungen" die Bevölkerung per Referendum einzubinden, auch Wiens Bürgermeister Michael Häupl ist dieser Meinung.
Die Europa-Position der ÖVP sei jedenfalls deutlich, sagte der Vizekanzler: Über einen EU-Beitritt der Türkei müsse abgestimmt werden, auch ein gesamteuropäisches Referendum sei denkbar. Ein "Fleckerlteppich", also einzelne Abstimmungen in den Mitgliedstaaten, würden die EU aber "lähmen".