Es gehört zu den Prinzipien der ungeschriebenen Realverfassung der Zweiten Republik, dass der Bundespräsident die aktuelle Tagespolitik nicht kommentiert. Wenn er aus aktuellem Anlass die geschriebene Verfassungslage referiert, dann hört man ihm zu, als ob er ganz besondere Weisheiten von sich gäbe.

Das hat er am Dienstag nicht getan. Bundespräsident Heinz Fischers Weisheit bestand eben darin, mit der Autorität eines Staatsnotars festzuhalten, dass Volksabstimmungen über EU-Verträge keineswegs zwingend sind. Das hat man vorher auch gewusst. Und daran haben sich die beiden Regierungsparteien auch bisher gehalten.

Aber wenn der Herr Bundespräsident extra darauf hinweist, dann kann sich jeder herauspicken, was ihm gefällt. Aus ÖVP-Sicht wird das heißen: Wenn Volksabstimmungen nicht notwendig sind, dann braucht man sie auch nicht anzukündigen oder gar anzusetzen - das hat selbst das Staatsoberhaupt gesagt. Und wenn das so ist, so soll sich die SPÖ gefälligst dem fügen.

Die SPÖ kann das allerdings ganz anders interpretieren: Wenn der Nationalrat will, kann er über jedes Gesetz eine Volksabstimmung ansetzen - auch darauf hat der Bundespräsident hingewiesen. Da geht es ja eigentlich nur um die entsprechende Mehrheit im Nationalrat: Finden sich genug Populisten, dann wird man über jeden EU-Vertrag, den das österreichische Parlament durchwinkt, eine Volksabstimmung ansetzen.

Und, warum nicht, auch zu anderen Themen: Was läge näher, als die unpopuläre, aber notwendige Pensionsautomatik ebenfalls in einer Volksabstimmung ablehnen zu lassen? Die ÖVP würde da natürlich ebenso wenig mitgehen wie bei den von Alfred Gusenbauer und Werner Faymann der Krone versprochenen Volksabstimmungen.

Eine Entspannung der Koalitionskrise hat das mehr als einstündige Gespräch der ÖVP-Spitze mit dem Bundespräsidenten also nicht gebracht. Und auch nicht den Ausweg in Neuwahlen: Heinz Fischer dachte nicht einmal daran, die einander nur noch mit Misstrauen begegnenden Koalitionsparteien aus ihrer Pflicht zu entlassen - er erinnerte im Gegenteil daran, dass es, wenn schon, eben Sache der Parteien wäre, eine Mehrheit für einen Auflösungsbeschluss zu suchen und zu finden.

Auch der in echtem Kanzleideutsch gedrechselte Nachsatz des Bundespräsidenten lässt jeglichen Interpretationsspielraum offen: "Der Nationalrat wird bei einer solchen Entscheidung jedenfalls auf den Stand der Verwirklichung des Regierungsprogramms Bedacht zu nehmen haben."

Im Parlament könnte man sich nun auf die Interpretation verstehen, dass das Regierungsprogramm, so wie es vorliegt, offenbar nicht abgearbeitet werden kann (aus Sicht der Opposition auch: gar nicht verwirklicht werden soll) - und dass man sich bei einem Neuwahlbeschluss auch auf Heinz Fischer berufen könnte.

Dieser will aber lieber sehen, dass diese (immer noch auf sein Vertrauen gestützte) Regierung arbeitet. Wie das gehen soll, weiß keiner so recht - zu weit sind die Standpunkte in den meisten Sachfragen auseinandergedriftet. Man ist ja nicht nur in der staatspolitisch wichtigen Frage, welche Rolle Österreich in und gegenüber der EU einnehmen soll, zerstritten - man weiß nicht, wie man die Pensionen sichert, wie man das Gesundheitssystem finanziert und wann man den Bürgern wie viel Steuererleichterung gewähren kann.

Wie soll man da weiterarbeiten? Vielleicht hat Heinz Fischer da ja den einen oder anderen Tipp. Solche Tipps öffentlich zu machen widerspricht der Realverfassung. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.7.2008)