Aufdeckungsarbeit in kolonialisierten Körpern: Marlene Streeruwitz.

Foto: Corn
"Die Luftballone waren dann Spiegelscheiben, auf denen die Bilder abliefen und er sich dann doch sehen musste in den Spiegeln und wie sie ihn auseinanderzogen, die verschiedenen Spiegel. Dieses Gefühl, zerrissen zu werden, begleitete ihn. (…) Der ungeheure Zwang, dieses Geld zu bekommen. Er musste dieses Geld bekommen."

Das ist die Befindlichkeit eines sehr reichen Mannes im mittleren Alter, der noch reicher werden möchte, Spekulieren "war sein Beruf" . Seine "Spiegeljongliererei" ist aus der Balance geraten. Zu den drei Spiegeln, die er braucht, gehört die Ehefrau Lilli, die ihn hasst, anschreit und schlägt, die verschiedenen Rücken der Asiatinnen, die ihn sexuell befriedigen, ohne dass er ihr Gesicht sehen muss, und der Anblick seiner zwei Töchter Hetty und Netty auf dem Boden beim selbstvergessenen Spiel. Lilli versteht seine "Ökonomie der Spiegelbilder" nicht und will nur mehr sein Geld, weshalb er sie loswerden muss. Sie zählt zu jenen Frauen, die zu Mittäterinnen in der Welt männlicher Macht werden, um am Ende doch als Opfer verabschiedet zu werden.

In ihrem neuen Roman Kreuzungen verfolgt Marlene Streeruwitz in ihrer literarischen Analyse des Neoliberalismus den Gedankenfluss dieses namenlosen Mannes bei seinem (Über)lebensroman, den er nicht schreiben muss, sondern machen kann und dabei wie ein Klon wirkt. Unterstützt wird er von seiner Therapeutin Dr. Erlacher, die seine Regielehrerin ist, denn er war "ja doch eher ein Regisseur als ein Mitspieler und genauso würde er sein neues Leben behandeln." Das Geld ermöglicht ihm die Aneignung aller Lebensbereiche, es hat sich allerdings auch seines Körpers, seiner Gefühle und seiner Sexualität bemächtigt, denn er ist das "Fleisch seines Gelds" .

Exemplarischer Held

Nach Jessica, 30 oder der arbeitslosen Theaterexpertin Selma Brechthold in Entfernung wagt sich Marlene Streeruwitz in ihrer sprachlichen Aufdeckungsarbeit der Kolonialisierung des Menschen also zum ersten Mal ins Zentrum der Macht. Weniger nah als an ihre Heldinnen zoomt Marlene Streeruwitz die Perspektive auf ihren exemplarischen Helden, der nach der Entscheidungsschlacht mit Lilli das Weite sucht und in Venedig hängenbleibt, nachdem er sich in der Schweiz mit neuen blendend weißen Zähnen ausgestattet hat – "das Teuerste an mir".

In ihrer präzisen Kunstsprache, motivisch dicht verknüpft, vermittelt Streeruwitz die konsequente Innenperspektive eines Mannes, der an den verschiedenen Lebenskreuzungen seine Identität aus sich selbst ständig neu zu schaffen sucht, und bewahrt dabei eine feministische Distanz zu seinen Beschädigungen, lässt Leerstellen. Schonungslos entlarvt sie die sprachliche Konstruktion eines narzisstischen Machtmenschen, der von niemandem mehr abhängig sein möchte. Ihr ästhetisches Konzept ist zugleich politische Analyse der hegemonialen Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft, in der faschistoide Strukturen weiterwirken und in Geschlechterdifferenzen festgeschrieben werden.

Dem einsamen Helden fehlen die Spiegel. Er "wusste nicht, ob er ein winziger Vogel war oder ein ungeheuer großer Adler" und deshalb vermisst er auch die Asiatinnen, denn die "mussten keuchen wie sein Kleiner Mann das bestimmte" . Und so bleibt ihm nur der Spiegel (als solcher ist notfalls auch der silberne Schutzumschlag des Buches brauchbar) in seiner venezianischen Wohnung im Stil von 1910. Dann begegnet er doch noch dem Künstler Gianni, der die Kunst der Einverleibung und Ausscheidung perfekt beherrscht. Und als ihm dieser wieder abhandenkommt, verliebt er sich in eine fremde Frau, die er am Lido verfolgt, aber nicht einmal anspricht.

Nach den von literarischen Texten inspirierten venezianischen Erfahrungen lässt Marlene Streeruwitz ihren Helden nach Zürich fliegen, wo er sich über eine Heiratsagentur eine passende Frau suchen will. Ob Francesca Ambrose-Fitzherbert die Person ist, die er braucht, scheint unwahrscheinlich, denn mit ihrem Bestehen auf künstlicher Befruchtung kann er sich nicht anfreunden und auf dem Flug im Privatjet zu seinem neuen Lebensmittelpunkt London entpuppt sich Francesca schließlich überhaupt als Falle.

Für den mächtigen Mann, der sein eigenes Selbst ständig künstlich erzeugt, wird die künstliche Zeugung seines Nachwuchses, die "Kreuzung" , zur bedrohlichen Angst vor der Kastration. Wieder sucht er das Weite, flieht vor Francesca in den Londoner Großstadttrubel, um für immer vor Nachstellungen sicher zu sein, denn seine größte Angst bleibt die Veröffentlichung seines Reichtums im Magazin Forbes.

Neue Pläne

Am Romanende hat er es noch nicht geschafft, aber er findet es richtiger, "als Sieger erst den neuen Namen anzunehmen und im Triumph der vollendeten Selbstschöpfung in dieses neue Leben einzuziehen" . Dafür schmiedet der Überlebenskünstler auf seinem Kreuzweg des Lebens neue Pläne. Einstweilen bleibt ihm – Francesca spricht ihn vor ihrem Ende mit "Max" an – der Genuss einer Schokobombe, einer Weichselpyramide und eines Orangentörtchens von Fortnum’s in seiner unfertigen Wohnung am Südufer der Themse. Sorgen um diesen Mann brauchen wir uns keine zu machen, er muss uns nicht leidtun. (Christa Gürtler, ALBUM/DER STANDARD, 12.07/13.07.2008)