Ludwig Laher: "Tote Grenze" hieß mein Feature, und der Tod war auch unübertragen präsent darin. Eine Geschichte handelte von dem kleinen Mädchen, das beim Spielen in die hochwasserführende Maltsch stürzte, abgetrieben wurde und ertrunken an einem Ast auf tschechischer Seite hängenblieb.

Foto: Heribert Corn
Eine Kirche, davor Häuser, davor Wiesen und Felder, die sich bis zu mir heraufzogen, von einem Karrenweg durchschnitten. Stunden schon war ich zu Fuß im nördlichen Mühlviertel unterwegs, ohne Ziel, ohne Wanderkarte. Ich spürte meinen Körper, wie ich es mir vorgenommen hatte, und war froh um das Dorf, das sich hinter der Hügelkuppe auftat. Beim ersten Wirt wollte ich einkehren, rasten, Notizen machen, denn langes Gehen klärt meinen Kopf. Das war vor einem Vierteljahrhundert so, das ist heute nicht anders.

Die Zwiebelhaube, auf die ich zumarschierte, wirkte ramponiert, fiel mir auf. Vielleicht ein Sturmschaden. Selbst als ich die Häuser fast erreicht hatte, ahnte ich nichts, wunderte mich bloß über den dicht verbuschten Streifen zwischen den gepflegten Gebäuden vor mir und dem dahinter aufragenden Kirchturm. Der Streifen stellte sich als Flußlauf heraus, ein besserer Bach plätscherte braunrot talab. Von einer Brücke war nichts zu sehen. Der Bauer füllte trüben Most in die Gläser. Da drüben bin ich in die Schule gegangen, erzählte er, und jeden Sonntag in die Kirche. Das Ortszentrum befand sich auf tschechischer Seite, bis auf zwei Häuser und die Kirche sei alles weggerissen. "Das wird wunderbares Eldorado für Natur und für Tiere" , soll ein russischer Offizier gesagt haben, als ein paar Jahre nach dem Krieg die Bagger auffuhren und vom Marktplatz nur die freien Innenflächen übrigblieben. Jetzt sei es Niemandsland, es gebe allerdings Grenzsoldaten. Manche würden zurückgrüßen, obwohl sie das nicht dürften. Und der Kirche könne er beim Zusammenfallen zuschauen.

Ich habe dann, mitten im Kalten Krieg, an die Regierungen der CSSR und Österreichs geschrieben. Die gotische Kirche samt dem Doktorhaus an der Nahtstelle zwischen Ost und West würde sich hervorragend als Begegnungszentrum eignen, als Ort des Dialogs. Ich war nicht so naiv zu glauben, daraus würde etwas werden. Aber inzwischen arbeitete ich an einem Ö1-Hörbild über diese Gegend und wollte nicht, daß alle Gesprächspartner nur von einem besseren Früher redeten und einer ewigen, unabänderlichen Gegenwart. Ich erhielt sogar offizielle Antworten, die längere aus der Tschechoslowakei. Man bedaure die momentanen Umstände, die eine so wichtige Anregung noch nicht umsetzbar machen würden, hieß es darin. Das Wort noch ließ einige Leute rund um den Dorftorso anbeißen, eher die älteren, für die der Eiserne Vorhang nichts Gottgegebenes war. Ja, das wäre schon etwas, einmal noch die Maltsch überqueren.

"Tote Grenze" hieß mein Feature, und der Tod war auch unübertragen präsent darin. Eine Geschichte handelte von dem kleinen Mädchen, das beim Spielen in die hochwasserführende Maltsch stürzte, abgetrieben wurde und ertrunken an einem Ast auf tschechischer Seite hängenblieb. Vor den Augen der Eltern wurde die Leiche von CSSR-Sicherheitskräften geborgen, in die nächste Kreisstadt geschafft und erst Tage später nach komplizierten bürokratischen Abläufen am zwanzig Kilometer entfernten nächsten Grenzübergang den österreichischen Behörden übergeben.

National sei man drüben erzogen worden, erinnerten sich ehemalige Auslandsvolksschüler, und das schon lange vor dem Anschluß der Sudetengebiete ans Deutsche Reich. Tschechen habe es praktisch keine gegeben, außer den Zöllnern. Von großen Vorkriegsprozessionen nach Maria Schnee war die O-Ton-Rede und vom einträglichen Schmuggel, vom billigen Bier jenseits der Maltsch, lustigen Kirtagen und den 110 gewesenen Häusern. Drüben war Böhmen. Und darum wurde dort konsequent böhmisch geackert, hier österreichisch, hüum und hottum, links gewendet bei ihnen, rechts bei uns, jeder Ochse wußte das. Es gab den böhmischen Herrgott und den österreichischen. Beide starben um die neunte Stunde, aber der eine von Mitternacht an gerechnet, der andere von Sonnenaufgang. Und so läuteten die Glocken am Freitag im einen Land um neun in der Früh, im anderen um drei am Nachmittag. Damals.

Einige bereuten es bitter

Für weitere Hörbilder kehrte ich in die Gegend zurück, als die Welt sich 1989/90 wieder einmal völlig verändert hatte. Eines hieß wie diese Reihe "Grenzerfahrungen" und berichtete von Raubzügen österreichischer Schnäppchenjäger in tschechischen Supermärkten, von Gelagen in Restaurants, als dort alles noch nichts kostete, von ersten Betrieben, die Produktionsstätten hinter die Grenze verlagerten und vor allem von den Grenzbewohnern zu beiden Seiten, die von der Zeitenwende überrollt wurden und sich erst langsam einzuleben begannen, wenn überhaupt.

"Kein echter Tscheche bin ich nicht" , brachte es in unverfälschtem Mühlviertler Dialekt einer jener Sudetendeutschen auf den Punkt, die als Opfer des Faschismus oder in Mischehen einst der Vertreibung entgangen waren. "Kein echter Tscheche bin ich nicht" betitelte ich 1992 mein Feature über die deutschsprachige Minderheit hinter der Grenze. Einige bereuten es bitter, nicht gegangen zu sein, andere wären nie bereit gewesen, was sie Heimat nannten, gegen mehr Wohlstand und weniger Anfeindungen einzutauschen.

Zehn Jahre nach dem Gespräch beim Most überredete ich Gustav, den alten Bauern, mit mir für eine kleine Fernsehgeschichte die fünfzig Meter von seinem Haus zur Kirche drüben auf sich zu nehmen, allerdings immer noch auf einem Umweg von vierzig Kilometern. Dachstuhl und Turm der Kirche waren notdürftig gerichtet, die alten Straßenverläufe ohne Schwierigkeiten nachzuvollziehen. Während der Dreharbeiten stand die Sanierung des Friedhofs an, umgestürzte Grabsteine wurden aufgestellt, neu verankert. Der Weidenwald, der ihn zugedeckt hatte, lag säuberlich geschlichtet daneben. Gustav hatte durch drei Jahre keinen Grund gesehen, diese Reise anzutreten. Nun weigerte er sich, die Kirche zu betreten, er wolle mit dem Bild vom Altarraum sterben, das er von der letzten Meßfeier damals im Kopf habe. Gott sei Dank sei die Jugend auf beiden Seiten nicht mehr so anfällig für den Nationalismus, der das hier angerichtet habe, meinte er, und herführen solle man die, die neuen Führern nachrennen, das sei der einzige Sinn solch eines Ortes.

Mir schien das ein schönes Schlußwort, und ich wollte in Zukunft höchstens privat in der Gegend vorbeikommen. Doch so eine Grenze hat ihre eigene Dynamik, und während die Dorfreste heute als Mahnmal vorbildlich restauriert sind, die Kirche in neuem Glanz erstrahlt, Wanderrouten und Brücken wie ganz früher für kurze Wege zwischen hier und dort sorgen, schreien in der Nähe andere Zustände zum Himmel, das einträgliche Geschäft mit jungen Körpern zum Beispiel, denn das neue Europa hat diesem Wirtschaftszweig einen ungeahnten Aufschwung verliehen.

Ich habe mir die Mühe gemacht, mich unter Prostituierten und Freiern umzutun und meinen letzten Roman Und nehmen was kommt im Gegenuhrzeigersinn entlang der Grenzen Tschechiens zu Deutschland und Österreich spielen zu lassen, von Liberec/Reichenberg im Norden bis Znojmo/Znaim im Süden. Es ist die Geschichte eines Roma-Mädchens aus der Ostslowakei, das von der schlimmen Kindheit an seine Füße nicht auf den Boden bekommt. Monika ist kein geborenes Opfer, sondern eine ausgeprägte kleine Persönlichkeit. Der Verschlagenheit der Welt weiß sie aber nichts entgegenzusetzen, weil niemand sie fördert und ihre naive Phantasie nicht ausreicht, sich auszumalen, daß ihre Schönheit in einschlägigen Augen nach bestmöglicher Verwertung schreit.

Als eine von vielen findet Monika sich endlich trotz heftiger Gegenwehr im einstigen Niemandsland und knapp dahinter gut aufgestellt für deutsche und österreichische Billigficksuchende. Ein Grenzgang war es auch für mich als Autor, weder die Voyeure zu bedienen noch mit der Moralkeule gegen das Sexbusineß zu wettern; mich ganz auf eine bestimmte Frau zu konzentrieren und doch über Strukturen zu berichten;

Hurenbeichtenklischees zu vermeiden und doch sinnlich zu erzählen; als Mann mit einer Frau distanziert intim zu werden, die die Schnauze von angemaßter Intimität voll hat. Mitreißende Diskretion hat ein Kritiker dem Buch zugesprochen, und das breite, praktisch einhellig zustimmende Echo zeigt mir, daß es richtig war, die tschechische Grenze erneut in den Mittelpunkt meiner Arbeit zu stellen.

Einmal, vielleicht 1963, nahmen uns Bekannte, die ein Auto besaßen, zum Baden mit. Es sollte zu den lieblichen Rosenhofteichen gehen. Man warnte mich, die böse CSSR sei nicht mehr weit, meine Mutter ernannte gar den Holzzaun einer Viehweide hinter der Liegewiese zur Grenzbefestigung und verbot mir, beim Spielen auf die andere Seite zu klettern, denn die gut getarnten Soldaten in den Büschen würden mich sofort verhaften. Ich glaubte ihr zwar, aber in einem unbeobachteten Moment mußte ich doch probieren, ein nacktes Bein zwischen die morschen Bretter des Zauns zu stecken und meine Zehen in vermeintlich tschechische Erde zu graben. Damals hat es angefangen mit meiner persönlichen Grenzgeschichte des Nicht-einfach-Hinnehmens. (Ludwig Laher, ALBUM/DER STANDARD, 12.07/13.07.2008)