Im Zeitalter der Plastination echter Leichen und deren Zurschaustellung ist ein Wachsfigurenkabinett doch irgendwie kalter Kaffee. Und dennoch kostet der Eintritt bei Madame Tussauds in Berlin 18,50 Euro. Das ist für einen Hartz-IV-Empfänger wirklich eine Menge Geld. Da muss schon etwas ganz Besonderes geboten werden: nicht nur Statisches, sondern Dynamisches, wie es der Berlin-Tourist von dieser dynamischen Stadt sowieso erwartet. Zum Beispiel ein Hitler zum Zerhauen. Man nimmt ein bisschen Anlauf, stößt zwei sinnlos herumstehende Museumsangestellte beiseite, die bloß aufpassen, dass für 18,50 Euro Eintrittsgeld niemand ein Erinnerungsfoto schießt, springt über die Absperrkordel und krallt sich mit der deutschen Grußformel "Nie wieder Krieg!" den wächsernen Führer. Der ist so weich, dass ihm durch kurzes Schlagen und Schütteln schon der Kopf abgeht.Es ist stark zu vermuten, dass die Manager von Madame Tussauds neuer Filiale in Berlin den Hartz-IV-Empfänger Frank L., der diese heldenhafte Sachbeschädigung gleich am Eröffnungstag beging, selbst engagiert haben. Wenn nicht, gehören sie wegen Unfähigkeit entlassen. Gebührendes Grausen Denn wo, wenn nicht heute, und wann, wenn nicht in Berlin, könnten die Umstände günstiger sein, um mit solch reinem Blödsinn wie einer Wachspuppe dermaßen viel politisch-kommerzielles Aufsehen zu erregen? Werden doch künftige Besucher das Exponat Hitler nicht nur mit dem gebührenden weltgeschichtlichen Grausen betrachten, sondern auch mit besorgtem Blick nach den Spuren dieses weltberühmten Anschlags suchen. Man sollte bei Madame Tussauds ein Hau-den-Hitler-Zimmer einrichten, denn wie sonst sollten die Touristenmassen ihre grenzenlose Wut auf den Diktator wieder loswerden, die sich in ihnen anstaut, nachdem sie gerade durch Herumhopsen in einem Stelenfeld vom Holocaust erfahren haben? Da tut die Adolf-Attrappe gute Dienste, um Berlin nicht zu einem brodelnden Kessel unkontrollierbarer Gefühle werden zu lassen. Freilich ist das alles künstlich: die Wut, das Wachs und der Widerstand. Denn so wie es sich bei Tussauds Adolf um eine Attrappe handelt, so haben wir es bei Frank L.s Aktion mit der Attrappe eines Attentats zu tun. Der einzige Grund, weswegen wir geneigt sind, ihn vielleicht doch für authentisch zu halten, besteht in der haarsträubend komischen Tatsache, dass dieser wegen Stromdiebstahls und Schwarzfahrens polizeibekannte Mann früher selbst Polizist war. Er quittierte den Dienst, weil er bei der Berliner Erster-Mai-Folklore auf der anderen Seite stehen wollte. Aus diesem Wachs werden die echten Attentäter gemacht. (Burkhard Müller-Ullrich/DER STANDARD, Printausgabe, 12./13. Juli 2008)